Totenpfad
Lieblingsschülerin Ruth
.
Ruth betrachtet die handgeschriebenen Worte und hat plötzlich das Gefühl, als sähe sie einen riesigen Schatten an der Wand: die Hörner, den Schweif, den gespaltenen Huf. Blindlings springt sie auf und stolpert fast zum Schreibtisch hinüber, wo sie immer noch Kopien der Lucy-Downey-Briefe aufbewahrt. Atemlos durchblättert sie die Briefe, bis sie die beiden handgeschriebenen findet.
Sie legt sie auf den Tisch, neben das Buch mit Eriks Widmung. Die Handschrift ist identisch.
22
Stunden scheinen zu vergehen, zumindest kommt es ihr so vor, während sie einfach nur dasteht und sich nicht rühren, kaum noch atmen kann. Ihr ganzer Körper ist wie gelähmt. Nachdenken, Ruth, nachdenken. Weiteratmen. Ist es tatsächlich möglich, dass Erik die Briefe geschrieben hat? Ist es tatsächlich möglich, dass er nicht nur ein scheinheiliger Casanova ist, sondern auch ein Mörder?
Das Schlimmste ist, dass es ihr gar nicht abwegig erscheint. Erik ist Archäologe. Er kennt sich aus mit nordischer Mythologie, jungsteinzeitlichen Ritualen und der Macht der Landschaft. Sie hört noch seine Stimme, diese melodische Stimme, die sie so sehr liebt, wenn er am Lagerfeuer Geschichten von Wassergeistern, Formwandlern und den Kreaturen der Finsternis erzählte. Und mit einem weiteren eisigen Schauer fallen ihr seine Worte vom Morgen wieder ein:
Die arme Kleine ist tot. Sie ist begraben, hat ihren Frieden
. Ein fast wörtliches Zitat aus einem der Briefe.
Kann das wirklich wahr sein? Erik lebte noch in England, als Lucy Downey verschwand, es war ja gleich nach der Henge-Ausgrabung. Die frühen Briefe kann er also durchaus geschrieben haben – er ist erst acht Jahre später nach Norwegen zurückgegangen. Aber kann er auch die neueren Briefe geschickt haben, die kamen, nachdem Scarlet Henderson verschwunden war? Er ist doch erst seit Januar wieder hier. Der erste Brief, den Nelson ihr gezeigt hat, stammt vom letzten November. Kann Erik diesen Brief geschickt haben – oder hat er dafür gesorgt, dass jemand anders ihn schickt?
Das ist doch völlig verrückt, sagt sich Ruth, während sie sich bückt, um Flint zu kraulen, der ihr schnurrend um die Beine streicht. Erik wäre doch niemals dazu fähig, solche bösen, höhnischen, perversen Briefe zu schreiben. Erist ein Menschenfreund, immer unter den Ersten, wenn es darum geht, streikende Bergarbeiter zu unterstützen oder den Opfern von Naturkatastrophen zu helfen. Er ist fürsorglich und aufmerksam: Er hat Ruth getröstet, als Peter geheiratet hat, er hat mit Shona um ihren Vater getrauert. Doch andererseits hat er auch immer Verständnis für Menschenopfer bekundet («In der christlichen Kommunion passiert doch auch nichts anderes»). Er riet Ruth, sich mit einem neuen Liebhaber über Peter hinwegzutrösten («Das ist das Einfachste»). Und er hat mit Shona geschlafen und sie dann offenbar dazu überredet, ihr gemeinsames Kind abzutreiben, obwohl er kurz vorher noch mit ihr um ihren Vater geweint hat. Erik ist amoralisch, er bewegt sich außerhalb aller normalen menschlichen Verhaltensregeln, das ist ja gerade das Reizvolle an ihm. Aber kann ihn das nicht auch zu unvorstellbar bösen Handlungen befähigen?
Angenommen, er hat die Briefe tatsächlich geschrieben – hat er dann auch die beiden kleinen Mädchen umgebracht? Erst jetzt merkt Ruth, dass sie das Katzenfutter, das sie eigentlich in Flints Napf geben wollte, daneben auf den Boden geleert hat, weil sie so in Gedanken versunken war. Der Kater flitzt wie ein geölter Blitz an ihr vorbei, um an sein Fressen zu kommen. Ein weiteres Gespräch mit Erik fällt ihr ein, es ging um ihre Eisenzeitleiche. «Wie kann man so etwas nur tun?», hat sie ihn gefragt. «Wie kann man für ein religiöses Ritual ein Kind töten?» – «Sieh es doch mal so», hat Erik ganz ruhig geantwortet. «Das ist vielleicht nicht die schlechteste Art zu sterben. Immerhin erspart man dem Kind damit die Desillusionierung des Erwachsenwerdens.» Er lächelte dabei, doch Ruth erinnert sich, dass sie fröstelte. Hat Erik die beiden Mädchen etwa getötet, um ihnen die Desillusionierung des Erwachsenwerdens zu ersparen?
Sie hält das alles nicht mehr aus. Hastig rafft sie Mantel und Handtasche zusammen und rennt in den Regen hinaus. Sie muss mit Shona reden.
Shona ist noch nicht zu Hause, als Ruth bei ihr ankommt. Ruth lässt sich auf die Stufen vor dem Haus sinken und vergisst in ihrer Erschöpfung, dass sie ja einen Schlüssel hat.
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