Totenpfad
Frau mit den Dreadlocks einträgt, die neben ihr arbeitet.
«Ruth!»
Nur allzu bereit, sich von ihren wirren, unschönen Gedanken ablenken zu lassen, blickt Ruth auf. Vom Graben aus sieht sie den Neuankömmling von unten nach oben: Wanderstiefel, wasserabweisende Hose, schlammfarbene Jacke. David.
Er hockt sich an den Rand des Grabens.
«Was ist denn hier los?», fragt er.
Ruth streicht sich eine schweißfeuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. «Wir führen eine archäologische Ausgrabung durch», sagt sie. «Es geht um das Eisenzeitgrab und den Dammweg.»
«Dammweg?»
«Die versunkenen Pfähle, die Sie mir gezeigt haben. Wir vermuten, dass es sich dabei um einen Dammweg aus der Bronzezeit handelt. Eine Art Pfad, der möglicherweise bis zum Henge geführt hat.» Sie senkt den Blick und hofft inständig, dass David nicht auf den Gedanken kommt, sie könnte ihren Kollegen von den Pfählen erzählt haben.
Doch David ist mit den Gedanken längst woanders. «Dann achten Sie aber unbedingt darauf, dass Sie dem Unterstand nicht zu nahe kommen. Dem hintersten. Dort nistet eine äußerst seltene Langohreule.»
Die Langohreule klingt, als hätte David sie sich ausgedacht, doch Ruth sieht ihm an, dass er ernsthaft besorgt ist. «Bis dahin kommen wir bestimmt nicht», beruhigt sie ihn. «Die Ausgrabungsstellen sind alle hier im Süden.»
Mit sorgenvoller Miene richtet David sich wieder auf. «Übrigens», ruft Ruth ihm nach. «Vielen Dank nochmal, dass Sie sich um Flint gekümmert haben. Meine Katze.» Eigentlich wollte sie ihm dafür noch eine Schachtel Pralinen oder so etwas vorbeibringen.
Ein Lächeln lässt unversehens sein Gesicht erstrahlen. «Das ist doch selbstverständlich», sagt er. «Jederzeit gerne.»
Sein Blick wandert zum Parkplatz hinüber. Ruth schaut in dieselbe Richtung und sieht den vertrauten, dreckigen Mercedes, der neben der Informationstafel des Vogelschutzgebietshält. Nelson steigt aus und schlendert in Jeans und einer abgetragenen Barbourjacke zum Graben herüber. Unwillkürlich wischt sich Ruth die dreckigen Hände an der Hose ab und streicht sich das Haar glatt.
«Hallo, Ruth.»
Ruth hat genug davon, von unten zu ihren Gesprächspartnern aufzusehen, und stemmt sich aus dem Graben. «Hallo.»
«Ganz schöner Zirkus hier», bemerkt Nelson und mustert mit missbilligendem Blick die Archäologen, die die Ausgrabungsstätte bevölkern. Ausgerechnet jetzt stimmt die Frau mit den Dreadlocks mit heller Stimme ein Volkslied an. Nelson zuckt zusammen.
«Es hat alles seine Ordnung», sagt Ruth. «Außerdem hast du die Ausgrabung doch selbst genehmigt.»
«Tja, ich brauche eben alle Hilfe, die ich kriegen kann.»
«Habt ihr noch irgendetwas beim Henge-Ring gefunden?»
«Rein gar nichts.» Nelson schweigt einen Augenblick und schaut über die abgesperrten Pfähle und die ordentlichen Erdhaufen hinweg zum Meer, und Ruth glaubt zu wissen, dass er an den frühen Morgen denkt, als sie Scarlets Leiche geborgen haben.
«Ich habe dich gestern gesehen», sagt er. «Bei der Beerdigung.»
«Ja», sagt Ruth.
«Schön, dass du gekommen bist.»
«Es war mir wichtig.»
Nelson scheint noch mehr sagen zu wollen, doch da ertönt eine vertraute, melodische Stimme hinter ihnen. «Na, so etwas. Chief Inspector …» Erik.
Nach allem, was Ruth über Polizeidienstgrade weiß, hat er Nelson mit dieser Anrede befördert, doch Nelson machtkeine Anstalten, ihn zu korrigieren. Er begrüßt Erik vergleichsweise herzlich, und nachdem sie ein paar Worte mit Ruth gewechselt haben, entfernen sich die beiden Männer, eifrig ins Gespräch vertieft. Ruth ist grundlos gekränkt darüber.
Gegen Mittag ist sie müde und hat die Nase voll. Sie denkt gerade darüber nach, einfach nach Hause zu gehen, einen schönen Tee zu trinken und ein heißes Bad zu nehmen, als ihr plötzlich zwei schmale Hände von hinten die Augen zuhalten.
«Rat mal, wer!»
Ruth macht sich los. Sie hat Shona ohnehin schon am Parfum erkannt.
Shona lässt sich neben Ruth ins Gras fallen. «Und?», fragt sie lächelnd. «Schon was Spannendes gefunden?»
Sie sieht wie immer absolut umwerfend aus, obwohl – oder gerade weil? – sie gar nichts dafür zu tun scheint. Sie hat das lange Haar zu einem unordentlichen Knoten gebunden, trägt eine Jeans, die ihre Beine so schmal wie Pfeifenreiniger wirken lässt, und eine silberne Daunenjacke, die ihre schlanke Figur nur noch betont. Ich sähe in so was aus wie eine wandelnde Steppdecke, denkt Ruth.
«Nicht
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