Totenpfad
war völlig besessen von ihm. Ich hätte alles für ihn getan.»
«Du hättest ihm also sogar geholfen, diese Briefe zu schreiben?»
Shona sieht mit trotziger Miene zu ihr auf. «Ja», sagt sie. «Sogar das.»
«Aber warum bloß, Shona? Das war eine Mordermittlung. Ihr habt wahrscheinlich dafür gesorgt, dass der Mörder entkommen ist.»
«Nelson ist auch ein Mörder», faucht Shona. «James Agar ist im Gefängnis gestorben, ein Jahr, nachdem Nelson ihn verhaftet hat. Er hat sich das Leben genommen.»
Ruth denkt an Cathbads Gedicht, sein «Loblied auf James Agar». Sie denkt an Nelsons Miene, als er die handgeschriebenen Zeilen las. Und sie denkt an den verschlossenen Aktenschrank in Cathbads Wohnwagen.
«Cathbad», sagt sie schließlich. «Was hat er mit der Sache zu tun?»
Shona stößt ein leicht hysterisches Lachen aus. «Weißt du das denn nicht?», fragt sie. «Er war der Postbote.»
23
Nelson hat einen harten Tag hinter sich. Solange er zurückdenken kann, muss er sich tagtäglich gegen irgendwelche Leute auf dem Revier zur Wehr zu setzen, die ihn absägen wollen, ein ratloses Ermittlerteam immer wieder neu motivieren, Michelles Aufforderungen überhören, endlich einmal früher nach Hause zu kommen, und gleichzeitig natürlich noch einen Mörder schnappen. Eigentlich hat er gedacht, Scarlets Beerdigung am Tag zuvor wäre der Tiefpunkt gewesen. Dieser kleine weiße Sarg … großer Gott! Scarlets Geschwister, so schutzbedürftig und fassungslos in ihren neuen schwarzen Kleidern, das Wiedersehen mit Lucy Downeys Eltern und dieses nagende Gefühl, sie enttäuscht zu haben. Und dann musste er sich auch noch da vorne hinstellen und diesen ganzen Quatsch von wegen Auferstehung und ewiges Leben verzapfen. Er hat Ruth unter den Trauergästen entdeckt und sich gefragt, ob sie wohl das Gleiche denkt wie er: Der Briefschreiber hätte seine helle Freude daran.
Überhaupt Ruth. Er hätte nicht mit ihr schlafen sollen,das ist ihm klar. Das war völlig unprofessionell und falsch noch dazu. Er hat Michelle betrogen, die er doch liebt. Er war ihr auch vorher schon zweimal untreu, hat sich aber immer damit getröstet, dass das nur kurze Affären waren, die nichts weiter bedeutet haben. Aber Ruth – bedeutet sie ihm etwas? Eigentlich ist sie gar nicht sein Typ, aber er muss doch zugeben, dass diese Nacht etwas Besonderes war. Ruth schien ihn in dem Moment ganz und gar zu verstehen, so wie es Michelle niemals gelungen ist. Sie hat ihn verstanden, ihm verziehen und sich ihm auf eine Weise hingegeben, die ihn selbst jetzt noch fast zu Tränen rührt. Warum hat sie das getan? Was sieht sie in ihm? Er ist ihr doch bestimmt nicht intellektuell genug. Sie steht auf schwuchtelige Professoren mit schlauen Theorien über Keramik aus der Eisenzeit, nicht auf ungebildete Polizisten aus dem Norden.
Warum also hat Ruth mit ihm geschlafen? Zum hundertsten Mal ruft er sich in Erinnerung, dass sie den ersten Schritt gemacht hat. Es war also nicht allein seine Schuld. Er kann es sich nur so erklären, dass all das Grauen sie so sehr erschüttert hat wie ihn: Scarlets Leiche, die Eltern, die benachrichtigt werden mussten. Schnörkelloser, ehrlicher Sex war da der einzige Ausweg. Mit der beste Sex übrigens, den er in seinem Leben hatte.
Er weiß nicht recht, woran er jetzt mit ihr ist. Sie ist keine Frau, die gleich gefühlsduselig wird, ihm ewige Liebe schwören und ihn anflehen würde, Michelle zu verlassen. Sie haben seither ein paarmal telefoniert, und sie war jedes Mal ganz wie immer, ruhig und professionell, obwohl sie gerade jetzt eine Menge mitmacht. So etwas bewundert Nelson. Ruth ist zäh, so wie er. Auch als er sie gestern bei der Ausgrabung traf, war sie auffallend cool. Er hat sie beobachtet, bevor sie ihn entdeckt hat: Sie war ganz vertieft in ihre Arbeit. Und obwohl er bis jetzt nicht weiß, warum,hat er sich plötzlich gewünscht, sie würde aufschauen, ihm zuwinken, lächeln oder ihm sogar entgegenlaufen und ihm um den Hals fallen. Natürlich hat sie nichts dergleichen getan. Sie hat einfach weiter ihre Arbeit gemacht, so wie er seine. Ein vernünftiges, erwachsenes Verhalten.
Mit diesem Erik Anderssen hat er sich bei der Ausgrabung auch ganz gut unterhalten. Natürlich ist der Kerl ein Spät-Hippie und eigentlich viel zu alt, um noch einen Pferdeschwanz zu tragen und diese ganzen Lederbändchen an den Handgelenken, aber trotzdem hat er Nelson ein paar ganz interessante Dinge erzählt. Offenbar liegt unter dem
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