Totenplatz
nicht, was sie richtig und was sie falsch machte.
Sie kam mit der neuen Situation einfach nicht zurecht und wollte zudem den Henker nicht aus den Augen lassen. Deshalb drehte sie sich um. Er hatte sich bis zu diesem Augenblick noch nicht von der Stelle bewegt, das tat er auch jetzt nicht, aber er hob mit einer locker anmutenden Bewegung das Richtbeil an.
Die Waffe berührte nicht mehr den Boden. Sie diente ihm nicht als Stütze, sie war zu dem geworden, wozu sie eigentlich geschaffen war, zu einem Instrument des Todes.
Und er hatte ein Opfer im Visier – Cynthia!
Das blonde Mädchen stand noch immer am Baumstamm. Es hielt den Kopf gesenkt, es trauerte um seine Puppe, bald aber würde es noch mehr trauern, denn der Henker schwang bereits sein Beil vor, als wollte er die Gelenke des rechten Arms geschmeidig machen.
Wie ein schweres Pendel glitt die Waffe in die Höhe, dann wieder zurück, so nahe an Helen McBain vorbei, daß sie sogar den Luftzug spürte. Ihre Haare sträubten sich, auf dem Rücken entstand eine Gänsehaut, und sie rieselte ebenfalls über ihren Nacken.
Ein Mord! Ein Mord in ihrem Garten! Ein Mädchen, das schon tot war, sollte noch einmal ermordet werden.
Sie konnte es nicht fassen und schüttelte den Kopf. Und plötzlich schrie sie. Da war der Damm gebrochen, der ihre Gefühle bisher zurückgehalten hatte.
Ja, sie mußte einfach schreien und ihre Not loswerden. Egal, was auch passierte.
Der Henker reagierte.
Für einen Moment blieb er stehen. Dann drehte er sich nach links. Helen sah die knochige Faust. Sie flog auf sie zu, als wäre sie vom Arm abgelöst worden.
Den Kopf konnte sie nicht mehr zur Seite drehen. Die Faust erwischte ihr Gesicht, zum Glück nicht voll, es war mehr ein Streifen, aber der Druck reichte aus, um sie zurückzuschaudern, und so segelte sie auf den Tisch, während sie zugleich spürte, wie das warme Blut aus ihren Nasenlöchern strömte.
Der Henker aber bewegte siel weiter!
Sein Ziel war der Baum. Und vor allen Dingen das Mädchen, das vor dem Stamm stand. Cynthia nahm die Gestalt überhaupt nicht zur Kenntnis. Sie hielt die Augen gesenkt, sie trauerte noch immer um ihre Puppe. Daß sie selbst in einer mörderischen Gefahr schwebte, bekam sie nicht mit.
Aber Helen sah es.
Trotz der Schmerzen in ihrer Nase hatte sie es geschafft, sich wieder aufzurichten. Sie lag nicht mehr, diesmal saß sie auf dem Tisch, den Kopf nach links gedreht, und sie sah, daß der Henker nicht mal den Kopf senkte, als die Zweige über seinen Schädel hinwegkratzten.
»Nicht…«
Es hatte ein Schrei werden sollen, eine Aufforderung, das Grauen zu stoppen, tatsächlich aber war nur ein jammernder Laut aus dem Mund der Zeugin gedrungen.
Der Henker ließ sich nicht beirren, nicht aufhalten, er würde seine Tat umsetzen. Da schaute die Kleine hoch. Sie sah den Töter. Er stand vor ihr. Er schaute auf sie nieder. Und er hob sein Beil.
Lässig sah es aus, getragen von einer kraftvollen Leichtigkeit. Helen McBain glaubte, daß jemand sie in einen Alptraum gedrückt hatte. Die Realität konnte doch nicht so brutal sein. Helen glaubte auch nicht mehr daran, daß sie mit einem toten Kind an der Hand durch den Garten gegangen war. Sie hatte einen Punkt erreicht, wo der Verstand sich weigerte, all die Realitäten aufzunehmen und sie zu verarbeiten.
Helen wußte auch, daß sie für das Kind nichts mehr tun konnte. Dieser Henker war einfach da, er war zu stark, er wollte töten. Die Frau war ein Nervenbündel, völlig durcheinander, und sie tat das, was Kinder tun, wenn sie sich vor grausamen Szenen schützen wollen.
Sie riß die Hände vor das Gesicht, spreizte jedoch die Finger. Etwas bekam sie mit.
Das schwere Beil durchschnitt die Luft. Sie hörte sogar das pfeifende Geräusch, in diesem Fall eine Todesmelodie, denn Cynthia wich nicht aus. Sie wurde getroffen.
Kein Schrei, kein Blut.
Dafür eine ferne Stimme, die wie aus dem Jenseits stammend klang, wobei die Sprecherin noch zusätzlich in eine sehr lange Röhre hineinredete. »Meine Puppe…«
Dann war es vorbei!
Es gab keinen Henker mehr, es gab das Kind nicht, aber es war auch kein Traum gewesen, denn als Helen die Hände von ihrem Gesicht wegnahm und gegen die Innenflächen schaute, da sah sie auch die dunklen Blutflecken auf der Haut.
Blut, das aus ihrer Nase geronnen war. Sie dachte an den Faustschlag, und sie schüttelte sich noch im nachhinein. Ihre Kehle saß zu, in Höhe der Kniekehlen spürte sie den Druck der Tischkante. Er
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