Totenplatz
wirklich sehr menschlich. »Wir haben mit dem Gedanken gespielt. Aber wir wußten nicht, wohin wir sollten. Viele unserer Freunde waren schon tot, andere lebten in der Welt verstreut, und so sind wir dann geblieben. Mein Vater vertraute auf die Kraft, die in ihm steckte. Er war immer ein gläubiger Mensch, und er hat gesagt, daß man uns zwar töten, aber nicht vernichten könnte. Wir würden erst unsere Ruhe finden, wenn auch der Henker nicht mehr war. Das habe ich noch in Erinnerung.«
»Und woher wußte dein Vater das?« fragte ich leise.
»Er war ein mächtiger Mann. Er hatte viele Freunde.«
»Auch Hector de Valois?« fragte ich.
Bei der Erwähnung dieses Namens schrak Cynthia zusammen. Für einen Moment sah ihre Gestalt aus, als wollte sie sich auflösen. Ich hatte schon Angst, das Falsche gesagt zu haben, aber sie fing sich wieder und nickte mir zu.
»Du kanntest ihn also?«
»Ja.«
»Gut?«
»Er war ein Freund meines Vaters.«
»Hat er euch auch besucht?«
»Er kam nicht oft, aber er blieb immer recht lange und brachte Botschaften mit.«
Ich nahm meine Hand wieder hoch. »Wenn du Hector de Valois kanntest, dann mußt du auch dieses Kreuz an ihm gesehen haben. Oder nicht?«
Cynthia senkte den Blick. Ich konzentrierte mich auf ihre Augen, in denen sich trotz ihres Zustandes so etwas wie Leben abzeichnete. Auch mich hatten ihre Erklärungen nicht kaltgelassen. Ich spürte den Schauer auf meinem Rücken sehr deutlich. Er hatte sich dort als eine zweite Haut festgesetzt.
»Kennst du es?«
»Ja…«
Ich atmete tief durch. Auch Suko blieb nicht so cool. Er schloß für einen Moment die Augen, und auf seinem Gesicht lag ebenfalls ein Schauer.
Ich fragte weiter. »Hat Hector de Valois es dir gezeigt?«
»Nein, nicht mir.«
»Deinem Vater.«
»Sie haben oft darüber gesprochen.« Meine Erregung nahm zu. »Uhd was haben sie gesagt? Kannst du dich daran erinnern?«
»Sie redeten über den Tod.«
»Mehr nicht?«
»Es ist so schwer«, sagte sie leise. »Ich…ich…war ja nicht immer mit dabei, doch ich habe gemerkt, daß mein Vater seinem Freund großes Vertrauen entgegenbrachte. Sie müssen auch über unseren Tod gesprochen haben, denn unser Vater hat einmal gesagt, kurz bevor der Henker kam, daß wir keine Furcht vor dem Tod zu haben brauchten. Jetzt nicht mehr, daran erinnere ich mich.«
»War das nach einem Besuch des Hector de Valois?«
»Nach einem langen sogar.«
»Und warum solltet ihr keine Furcht vor dem Tod haben? Jeder Mensch fürchtet sieb davor. Ob er nun erwachsen ist oder ein Kind. Für alle ist der Tod gleich schrecklich.«
»Das stimmt auch.«
»Aber…«
»Mein Vater wußte, daß wir sterben würden. Er sprach aber davon, daß wir die Kraft hätten, den Tod zu überwinden. Wir würden uns wiederfinden und erst unsere Ruhe bekommen, wenn es den Henker nicht mehr gibt. Wir würden ihn auch als Tote verfolgen, wir würden beobachten und den Platz, an dem wir gestorben sind, nicht aus den Augen lassen. Es ist der Totenplatz im Wald, die furchtbare Richtstätte, wo der Boden mit dem Blut Unschuldiger getränkt wurde. Ich habe…ich habe immer Angst gehabt. Er war so grausam, er hat sogar meine Puppe geköpft und dabei gelacht. Alles ist wieder da, ich spüre es. Die Zeit ist reif. Mein Vater hat recht gehabt, glaube ich.«
Ich nickte Cynthia zu. »Was weißt du noch?«
»Nichts mehr. Man tötete uns. Wir wurden auf den Richtklotz gelegt, und es schauten Soldaten zu. Der Henker hat kein Gesicht gehabt. Wir sahen nur seinen Körper und auch die Kapuze…« Das Geisterkind senkte den Kopf. Ich wußte nicht, ob feinstoffliche Wesen weinen können, aber bei Cynthia sah es so aus.
Das merkte auch Helen McBain. In ihr waren bei dieser Reaktion die mütterlichen Gefühle erwacht. Sie stand plötzlich auf und ging auf das Geisterkind zu.
Cynthia tat nichts, um der Frau auszuweichen, und Helen faßte dieses Wesen an.
Für Suko und mich war es faszinierend, zuzuschauen. Da standen sich zwei Lebens- oder Daseinsformen gegenüber, und keine stieß die andere ab. Cynthia Ashford ließ es zu, daß Helen sie berührte und schließlich ihren Arm um sie legte. Dabei drehte die Frau des Försters uns ihr Gesicht zu, und wir warteten auf eine Erklärung.
»Sie ist so anders«, flüsterte Helen. »So ganz anders. Ich kann sie fühlen, aber trotzdem ist sie nicht da. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Ich spüre ihre Psyche wie einen Körper. Sie ist nur Geist, ist aber gleichzeitig
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