Totenprinz - Westendorf, C: Totenprinz
Rolle beschränken lassen wollen. Eos scheint eine offensive und sexuell sehr aktive Göttin gewesen zu sein. Unter anderem hat sie mit dem Kriegsgott Ares, Aphrodites Geliebtem, angebändelt, woraufhin sie von Aphrodite wiederum mit einem Fluch belegt wurde. Fortan hat sie sich immer wieder und ausschließlich in sterbliche Jünglinge verlieben müssen. Das ist ein hartes Schicksal, wenn man bedenkt, dass fünfzig Menschenjahre für eine Göttin wohl nicht viel mehr als ein Wimpernschlag sein dürften.«
»Nicht schlecht, Frau Greve, das bringt mich auf eine Idee. Wenn Sie erlauben?«, nahm Mettmann das Lexikon zur Hand und begann darin zu blättern. »Ja, Astarte, da haben wir sie ja. Ursprünglich war sie eine semitische Fruchtbarkeitsgöttin, die dann später vor allem bei den Syrern und Ägyptern großen Anklang fand. Dort weist der Kult der Astarte sogar Züge von Prostitution und Bisexualität auf. Bei den Griechen wurde sie als Liebes-und
Himmelsgöttin verehrt und daher auch teilweise mit Aphrodite gleichgesetzt. Hören Sie sich das an: ›Astarte, die Üppige, Prächtige‹; Göttin der Liebe, Fruchtbarkeit und der Nacht. Sie wurde im Laufe der Zeit immer ambivalenter und zu einer Göttin mit zwei Gesichtern, denn sie repräsentiert zwei Prinzipien, die sich gegenseitig entweder ergänzen oder ausschließen. Zuletzt verkörperte Astarte auch noch den Kampf zwischen Gut und Böse. Was meinen Sie, trifft das nicht ebenfalls sehr gut auf Ihre Aufgabe zu? Darüber hinaus könnte der Täter denken, dass Sie mit Ihrem Pseudonym auf Ihre verborgene, Ihre dunkle Seite anspielen wollen. Gut möglich, dass ihn das scharfmacht.«
»Ja, Sie haben Recht, das passt wirklich gut. Jetzt müssen wir uns nur noch einen passenden Text überlegen, und sobald Marc Hellweg mein Foto dem Aussehen der bisherigen Opfer angepasst hat, kann meine Karriere als ›Internetsingle‹ beginnen.«
Endlich war es vollbracht, zum allerersten Mal war er den Weg bis ganz zu Ende gegangen. Und nun? Wie fühlte es sich an? Hatte er an Energie hinzugewonnen? Fühlte er sich jetzt wie neugeboren?
Ganz im Gegenteil, denn als er sich auf dem Bett ausstreckte, spürte er nichts als Erschöpfung in seinen müden Knochen. Dazu kam seit gestern Abend auch noch ein unerträglicher Juckreiz, so als ob sein verspannter Nacken und die bohrenden Schmerzen im Magen nicht schon quälend genug wären. Zuerst war es nicht mehr als ein leichtes Kribbeln gewesen, das sich allerdings von Minute zu Minute verstärkt hatte, so dass es ihn
jetzt nicht mehr schlafen ließ. Gut, wenn er schon kein Auge zubekam, konnte er ebenso gut aufstehen, um sich die Fotos anzusehen, die er von »Helena« aufgenommen hatte.
Was für eine Frau! Ihre Augen waren so tief wie das Meer. Und anstatt sich zu schützen, hatte sie all ihre Waffen vor ihm abgelegt und sich ihm ausgeliefert. Jedenfalls war es ihm genau so vorgekommen, nachdem sie sich, ohne zu zögern, kopfüber in die Situation hineingestürzt, ihm Vertrauen geschenkt und ihn in einem fort mit ihren Blicken scharfgemacht hatte. Ja, diese Frau hatte tatsächlich um jeden Preis lieben wollen. Aber gab es denn wirklich keinen anderen Weg als den der grenzenlosen Zerstörung, um sich von den Schatten der Vergangenheit zu befreien? Möglicherweise hätte er zu einem anderen Zeitpunkt seines Lebens sogar auf Helena eingehen und ihr ihre Wünsche erfüllen können. Doch bis wann wäre ihm dies überhaupt noch möglich gewesen? In den Jahren, bevor er sich in Melli verliebt hatte? Wäre er damals in der Lage gewesen, sich in Augen wie diese hineinfallen zu lassen? Er wusste es nicht, und inzwischen war es auch bedeutungslos geworden, denn die Geschichte mit Helena war zu Ende. Alles, was er wusste, war, dass er unbedingt eine weitere Chance brauchte. Er durfte jetzt nicht nachlassen, sondern musste sich sofort auf die Suche nach einer neuen Frau machen. Nach einer Frau, der es wie Helena gefiel, Schmerzen zu erleiden, und die Spaß daran hatte, sich ihm zu unterwerfen. Nach einer Frau, die ihm zuliebe über ihre Grenzen hinausging.
»Wo steckt eigentlich Weber?«, fragte Joachim Mettmann, der mit Anna in deren Büro saß und an einem Profiltext für sie feilte.
»Er sitzt im Konferenzraum und telefoniert zusammen mit Ferdinand Huber und Lars Haberland die Liste aller in Frage kommenden Fahrzeughalter ab. So, ich glaube, der Text ist gar nicht mal so schlecht. Was halten Sie davon?«, schob Anna Mettmann ihren Entwurf
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