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Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Frank
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unverblümtes. Unbemerkt war die Parade aufmarschiert, jedes Mitglied war ein Schlachtfeld erlebten Schmerzes. Die Jahre im Dunkel hatten ihnen nicht alles rauben können: nicht den Kummer in den blicklos-toten Augen, nicht die Wunden und Eiterungen der Krankheiten, an denen sie hier gestorben waren. Und waren da nicht immer noch letzte verwerfliche Anzeichen von Panik in ihren Gesichtern, die sie zweifellos empfunden hatten, als die Apokalypse sie in die Arme schloss? Bei manchen war die Angst noch jetzt fühlbar; andere hatten Frieden geschlossen. Vielleicht lag es aber auch nur am Licht, das Unruhe schuf, wo in Wirklichkeit nur Gleichgültigkeit vorzufinden war. Aber es konnte nicht den Zerfall vortäuschen; darunter litten sie wirklich. Ihr Verderben wurde sichtbar am von den Knochen gefaulten Fleisch, an den Wundstellen dort, wo es noch erhalten war, und wahrnehmbar wurde es durch den Gestank, der den quälenden Prozess begleitete; zumindest die Frau konnte ihn durch den Duft, mit dem sie ihre Tarnung überzuckerte, verbergen.
    Es gab, wie nun ersichtlich wurde, Hierarchien im Totenreich. Aus den hinteren Reihen trat ihr König hervor. Wodurch er diese Machtstellung errungen hatte, blieb Brendan verborgen; vielleicht durch den Hunger zu Lebzeiten auf dieses Privileg. Er trug schulterlanges Haar; die Spitzen der spröd-stumpfen Strähnen schienen mit dem Fleisch verwachsen zu sein. In seiner rechten Gesichtshälfte klaffte ein gewaltiges Loch, durch das die Mechanik seines Mundes und die Zahnfächer sichtbar wurden; wie ein Lächeln wirkte das, wie das herzlichste Lächeln.
    Der Leichnam kaute auf den Worten, die nicht kommen wollten, wie auf zerriebenen Steinen. Die Kunst des Sprechens hatte er fast verlernt; die menschliche Leichtigkeit war dahin. „Du hast lange gebraucht“, murmelte er.
    Brendan öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
    „Wir brauchen dich.“ Der Mund fächerte auf zu einem Grinsen. Die Zunge des Molochs schlackerte, sichtbar durch das Loch, im Mund. „Wir wollen dich.“
    Ah, das, dachte Brendan. Von allen Geständnissen, die sicher noch folgen würden, war dieses womöglich das wohlgesonnenste.
    „Wer ...“ Seine Stimme kippte weg, und er wusste, ein neuerlicher Versuch, die Frage zu stellen, würde ihn nicht heldenhafter dastehen lassen.
    „Das interessiert dich, ja? Wer wir sind?“ Scheinbar hatte der König jetzt Vertrauen zu seiner Stimme; die Worte wurden ausgeklügelter. „Wir sind Gesetzlose - waren es, als wir lebten. Betrüger, Mörder, Vergewaltiger; das Böse hatte seine helle Freude an uns, vermutlich. Wir hielten die Welt am Laufen. Entsetzen ist eine außerordentliche Quelle der Kraft, weißt du? Für Blutvergießer und Opfer gleichermaßen; es übt die Sinne.“
    Auch darüber Brendan einmal eine Abhandlung eines klugen Kopfes gelesen, aber die Worte der Bestie ließen nur vage etwas anklingen, die verschüttete Erinnerung an eine faszinierende Wahrheit.
    „Viele werden gefasst, nur die Besten nicht. Du wurdest in ein Loch gesperrt, nicht wahr, wie eine Ratte ins Loch? Hast dir das antun lassen von Leuten, die nicht heiliger sind als wir es waren.“
    Brendan war glücklich, das Verderben anschauen zu dürfen; wie es dort im verwesten Gesicht war, wie es im eigenen Stolz badete. Er schaute zum Leichnam mit dem Blick eines Säuglings zum Vater empor.
    „Wir waren vernünftiger als du“, sagte die Bestie, „wir konnten fliehen. Die Welt bietet Verstecke, und sie liegen unter den Städten; Karten ließen sich mit ihnen füllen. Hierher, in diese Höhlen gingen wir, andere kamen nach. Hier wurden Pläne geschmiedet und Kinder geboren. Und hier starben wir. Und jetzt ... jetzt ...“ Der König schwieg und schaute ihn an. Und, glaubte Brendan, schimmerte da nicht Trauer in seinen Augen?
    „Führ uns hier raus“, sagte der Tote, „hilf uns, dass die Welt wieder uns zu Füßen liegt und nicht ... Nachahmern.“
    Die Menschen hier hatten Tränen und Wut heraufbeschworen. Das wusste Brendan plötzlich wieder. Manche dieser Gesichter waren dazu da, sich ihrer zu erinnern, selbst die fortschreitende Zerstörung konnte das Maß ihrer in ihnen bohrenden Grausamkeit nicht gänzlich auslöschen. Tränen und Wut - und Bewunderung, nicht wahr? Bestien wurden geliebt, man verging sich an ihnen in seinen Träumen. Waren sie nicht einst, unterschwellig, der Stolz der Menschen in Warteschlangen und überfüllten Vorstadtzügen gewesen? Niemand, auch der Unschuldigste nicht,

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