Totenrache und zehn weitere Erzählungen
gefangen, und vielleicht gab es Lehren zu ziehen, vielleicht war der andere in Frieden gestorben, dann konnte er es auch.
Brendan forschte im Dunkel nach der Taschenlampe, die er verloren hatte. Bange Sekunden vergingen, bis er sie ertastete und feststellte, dass sie durch den Sturz keinen Schaden genommen hatte. Ihr Licht fuhr lässig über den Kopf des Toten hinweg und verschob spielerisch seine erstarrten Züge, aber schon ein flüchtiger Blick genügte, um zu wissen, wer dort lag.
Es war Rod.
Lange Minuten kniete Brendan neben dem Leichnam seines Kollegen; es kam ihm vor, als täte er es ein Leben lang. Die Wunden zu Rods Tod wurden sichtbar im sich verschiebenden Geflecht aus Licht und Schatten; sein Körper zeigte tiefe Spuren erlebten Schmerzes. Die an ihm verübten Gräuel sahen aus, als hätte sein Mörder - das konnten nicht die Hände der Frau verübt haben - versucht, den tobenden Leib des Mannes aus Fleisch und Faser zu fingern. Brendan war beinah froh, dass Angst und Erschöpfung ihn gleichgültig gemacht hatten; den Anblick des glitzernden Gedärms, das aus Rods aufgerissenen Leib gequollen war und all das hingeklatschte, zu Hieroglyphen geronnene Blut, ertrug er mit beinah akademischer Lässigkeit.
Brendan runzelte die Stirn. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er mit Rod gesprochen hatte, als Rod längst tot gewesen war; oben im Kino. Wer also, überlegte er, wer also hatte wirklich hinter der Fassade seines Kollegen gesteckt? Und, wichtiger noch, warum hatte er ihn nicht ebenfalls umgebracht? Brendan umkreiste das Problem, und schließlich, als seine Miene neue Hoffnung zeigte, wurde ihm bewusst, dass Rods Tod eine ausgezeichnete Versicherung war, denn offenbar hatte der Mörder mit Brendan etwas anderes im Sinn.
Er schaute seinem Kollegen ins Gesicht. Die Helligkeit brannte ihm trügerische Zeichen von Leben in die Augen; ein Funkeln und Flackern, wie zum Beweis echter Freude. Brendan suchte, bevor er aufstand, nach einem Gebet für den Toten, fand jedoch keines. Statt dessen legte er ihm die Hand auf die Stirn und schob sie bis zur Nasenwurzel vor. Er spürte die Stacheln der sich schließenden Augenlider und die Feuchtigkeit, als Rod die letzten Tränen abgepresst wurden. Er sollte nicht sehen müssen, wie die Ratten kamen.
Dann erhob er sich - seine Beine waren fühllos-kalt jetzt - und ging tiefer in den Schacht hinein, orientierungslos wie zuvor, aber mit neuen Zielen.
Nach dem Auffinden der Leiche verloren Brendans Verfolger die Lust an der Tarnung: Sie zeigten sich nun. Brendan wurde sich ihrer Nähe durch den Duft der Frau bewusst. Die Wahrnehmung war ein zuverlässiger Führer durch die Verschachtelungen des Labyrinths. Sie wartete auf ihn - wartete womöglich schon die ganze Zeit - im Kern einer Kreuzung; wirklich wie Straßen, dachte er, die Gänge hatten beinah Ausmaße von Straßen angenommen, die einen mit dem Versprechen auf Sehenswürdigkeiten lockten.
Brendan seufzte auf vor Erleichterung; was immer ihn hier erwartete, es hatte jetzt ein Ende, und wenn er der Verlierer war, dann hatte er immer noch die Hoffnung, daß ihm die Frau als Trophäe dieser Niederlage blieb. Es gab so viele Fragen, die gestellt werden mussten, aber sie zu sehen, entlockte ihm statt dessen ein Lächeln, und mit ihm als Geschenk trat er auf sie zu. Er umgriff ihre Hand, die kalt war, und stürzte hinab in die Schächte ihrer melancholischen Augen. Was konnte er da andres tun, als sie zu küssen? Auch ihre Lippen waren kalt; ihre Zunge, die Brendans Bemühungen erwiderte, war es ebenfalls.
Die Gewissheit, die einen Schauder durch Brendans Körper rucken ließ, war jetzt unleugbar präsent: Er hielt eine Tote mit dem Geschmack des Lebens in seinen Armen. Was immer diese Erkenntnis in ihm aufwirbelte - es verstörte ihn nicht. Musste er das nicht gar als Ehre hinnehmen, dass das Leben des Todes sich ihm leibhaftig herzeigte, in all seinem Zauber? Wenn das der Tod war - süß, fast betäubend süß, fast phallisch -, dann wollte er auf der Stelle von ihm genommen werden.
Er wollte seiner Geliebten irgend etwas sagen, aber seine Empfindungen wollten nicht öffentlich gemacht werden. Er erinnerte sich an das Geständnis eines Philosophen, das er einmal gelesen hatte: Wirkliche Ehrerbietung wird dadurch wahr, dass man keine Worte findet, sie auszusprechen.
„Wir besitzen Gaben, weißt du.“
Die Stimme riss Brendan aus seiner Begeisterung. Der Tod, sah er jetzt, besaß auch ein anderes Gesicht, ein
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