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Totenreigen

Totenreigen

Titel: Totenreigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Lykk
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Vater nächtelang seine Röhrenradios repariert. Ein heiliger
Ort der Inspiration.
    Nach dem Essen stellte Lüthje den Teller in die Küche, leerte das
Bierglas und kramte seinen Dostojewski aus dem Rucksack. Bevor er sich aufs
Bett legte, um noch ein wenig zu lesen, sah er auf das Fenster. Das Lampenlicht
erhellte den Rasen vor dem Haus in einem verzerrten Viereck. Es war ihm noch
nie aufgefallen, dass er die Grasnarbe auf Augenhöhe hatte.
    Er legte sich aufs Bett, schlug Seite dreihunderteinundzwanzig auf
und dachte zum hundertsten Male darüber nach, warum das Buch in der neuen
Übersetzung einen anderen Titel trug. »Verbrechen und Strafe« statt »Schuld und
Sühne«. Er kam endlich zu der Erkenntnis, dass Schuld auch jemand tragen kann,
der nach dem Gesetz unschuldig ist. Ein beruhigender Gedanke. Lüthje ließ das
Buch auf den Boden fallen und war augenblicklich eingeschlafen.

Dienstag
    1.
    Am Morgen rief Lüthje die Mails noch vor dem Frühstück ab.
Kommissarin Hoyer schrieb ihm, dass der Tote von einem Arbeitskollegen aus dem
Ministerium als Horst Drübbisch, Sohn der Ursula Drübbisch, identifiziert
worden war. Der Arbeitskollege wollte der Mutter den Anblick ersparen. Trotzdem
sei sie bereit, sich von der Polizei befragen zu lassen. Ihre Telefonnummer war
am Ende der Mail unter » P.S. « notiert. Das Detail
gefiel Lüthje. Diese Hoyer hatte Stil.
    Danach eine Mail von Vehrs mit der Liste der Besitztümer, die der
Mantelmann bei sich hatte, und der Mitteilung »Blutgruppe von Mantel mit Opfer
identisch, Rhesus positiv, DNA -Abgleich folgt«.
Letzteres war doch eigentlich nur noch Formsache.
    Vehrs hatte noch gestern Abend beim Hausmakler angerufen. Es hätten
sich einige, der Stimme nach, ältere Männer gemeldet, die das Haus besichtigen
wollten. Die hatten im Übrigen alle ziemlich lebhaft gesprochen und keinen
senilen Eindruck gemacht. Senil? Wer hatte Vehrs gesagt, dass der Mantelmann
senil gewesen sei?
    Lüthje druckte sich die Mail aus und fuhr nach einem Becher Tee mit
dem Rad ins Dorf. Er hatte schlecht geträumt und war wieder in gekrümmter
Körperhaltung aufgewacht. Im Traum hatte man ihn Raskolnikow genannt, obwohl er
ständig betont hatte, dass er Lüthje heiße. Mehrere Männer zerrten ihn an einen
Strand und zogen ihm ein Frauenkleid an. Nach einem heftigen Kampf gelang es
ihm, ins Ehrenmal zu flüchten. Plötzlich war er im Treppenhaus, weit oben.
Panik stieg in ihm auf. Das Kleid flatterte im Wind, der durch ein zerbrochenes
Fenster im Treppenhaus heulte. Das Kleid wurde länger und länger, wie eine
Fahne, glitt über das Treppengeländer in die Tiefe und riss ihn mit. In diesem
Moment war Lüthje aufgewacht.
    Als er den Hafenvorplatz entlang Richtung Strandstraße radelte, war
der Schmerz verschwunden. Der Nerv war wieder an die richtige Stelle gerutscht.
So musste es wohl sein.
    Er stellte das Fahrrad vor dem Drübbisch-Haus ab. Auf der
gegenüberliegenden Straßenseite, direkt an der Promenade, stand ein
Streifenwagen mit zwei Laboer Kollegen.
    »Würden Sie bitte auch auf mein Fahrrad aufpassen?«, rief er ihnen
zu. »Es ist neu, und ich habe den Schlüssel verlegt. Außerdem gehört es mir
nicht.« Er ging zum Strand hinunter.
    Als die Beamten ihre Sprache wiedergefunden hatten, rief einer von
ihnen: »Herr Steffens ist auch da, hinter dem Haus!«
    Lüthje hob lässig die Hand, zum Zeichen, dass er verstanden hatte.
    Er fand einen flachen Stein im Sand und holte weit aus. Er
titscherte den Stein fünfmal über die von kleinen Wellen gekräuselte
Wasseroberfläche, bevor er versank. Er spürte, wie sein Adrenalinspiegel stieg,
aber widerstand der Versuchung, sich für den Rest des Tages dem Spiel zu
ergeben.
    Ein kleiner Junge erschien neben ihm und machte es ihm nach. Er
schaffte es, zweimal zu titschern. Die jungen Eltern und die ältere Schwester standen
etwas abseits und klatschten. Allerdings war die Schwester deutlich
zurückhaltender. Lüthje kannte die Konstellation. Seine Schwester Rita war auch
heute noch gegenüber allem, was ihr kleiner Bruder tat, kritisch eingestellt.
Wie gut, dass sie auf der Insel Sylt lebte und fast nie aufs Festland kam.
    »Super!« Lüthje klatschte begeistert.
    Die Schwester sah ihren Bruder an wie eine Qualle und lief mit
trotziger Miene ihren Eltern nach, die schon weitergegangen waren. Sie redeten
mit fahrigen Handbewegungen aufeinander ein. Als die Tochter sie eingeholt
hatte, erstarben ihre Bewegungen.
    »Dranbleiben, immer dranbleiben«,

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