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Totenreigen

Totenreigen

Titel: Totenreigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Lykk
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sagte er zu dem Jungen. »Aber du
musst mit der Hand tiefer ausholen. Ich hab so angefangen wie du.«
    Der Junge richtete sich auf und sah Lüthje abschätzend an. Und das
ist aus dir geworden?, sagte sein Blick. Er suchte sich einen neuen Stein,
obwohl seine Eltern nach ihm riefen.
    Lüthje wandte sich zur Strandstraße. Auf der Promenade gab es zwar
noch kein Gedränge, wie so oft während der Kieler Woche, aber man konnte es
schon »belebt« nennen. Man genoss den Blick auf den blauen Himmel und die
Förde, die sich jeden Tag dichter mit Seglern aller Größen füllte. Niemandem
fielen die beiden Polizisten auf, die von Haus zu Haus gingen und Handzettel in
die Briefkästen warfen oder einem Hausbewohner an der Tür in die Hand drückten
und dabei versuchten, ihm sachdienliche Hinweise zu entlocken. Wahrscheinlich
dachten die Spaziergänger, dass sie Werbung für die Polizeisportschau in der
Ostseehalle machten. Die würde erst im November stattfinden, aber wer wusste
das hier schon. Und selbst wenn jemand das wusste: In der Kieler Woche gab es
alle möglichen Veranstaltungen. Warum nicht diesmal auch die Polizeisportschau?
    Genauso funktionierte für Lüthje das »Zeugengehirn«. Selbst dem
Auffälligen wird vom Verstand in einer gewohnten Umgebung eine Erklärung
untergeschoben, die der Warnzentrale im Gehirn signalisiert: Alles im grünen
Bereich, Adrenalinausschüttung nicht notwendig. Was waren Zeugenaussagen nach seiner
Theorie nach ein paar Tagen noch wert? Was sollte denn zum Zeitpunkt des Mordes
einem Anwohner oder zufällig vorbeikommenden Spaziergänger aufgefallen sein,
dass es auch nach ein oder zwei Tagen in seinem Gedächtnis haften blieb?
    Wie hatte die Szenerie vorgestern am frühen Abend ausgesehen, kurz
vor der Dämmerung? Das Wetter war ähnlich, die Sicht gut, weniger
Spaziergänger, weniger Verkehr, ein paar Radfahrer. Eine Person geht ins
Drübbisch-Haus, schneidet im Flur des Hauses einem Mann die Kehle durch. Es gab
keinen Kampf, bei dem Schreie nach draußen auf die Straße oder bis zur
Strandpromenade gedrungen sein konnten. Der Mörder tritt aus dem Haus. Er setzt
sich in ein Auto und verlässt Laboe, ohne vor Aufregung einen Verkehrsunfall zu
verursachen oder in eine Radarfalle zu geraten. Der Mörder war so unsichtbar
und geräuschlos, wie er gekommen war, verschwunden. Oder hatte er Laboe mit
demselben Bus wie Lüthje und der Mantelmann verlassen? Und war der Mantelmann
deshalb starr vor Angst, als Lüthje ihn angesprochen hatte?
    In der Zeit, in der der Mörder das Weite suchte, war der Mantelmann
vor dem Haus stehen geblieben. Hatte er den Mörder gesehen, als er aus dem Haus
trat? Nicht ausgeschlossen. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass der
Mantelmann nicht der Mörder war.
    Als einen eiskalten Mörder, der Horst Drübbisch von hinten den Hals
aufgeschnitten hatte, konnte er sich den Mantelmann nicht vorstellen, obwohl er
ihn nur gesehen hatte, ihn aber nicht kannte. Und wo war das Blut, das ihm in
diesem Fall zumindest auf Hand und Arm gespritzt wäre? Hatte er sich danach
irgendwo gewaschen und die Kleidung gewechselt? War er danach zum Tatort
zurückgekehrt und hatte als perfides Täuschungsmanöver im Flur mit dem sauberen
Mantel das Blut aufgewischt? Nein, das wäre absurd. Aber für die Absurditäten
im Kabinett der Ermittlungen hatte Lüthje ein kleines Kämmerchen ganz hinten in
seinem Kopf reserviert.
    Wie war der Mantelmann nach Laboe gekommen? So wie er weggefahren
war, dachte Lüthje. Mit dem Bus. Seit heute Morgen lief eine Befragung der
Busfahrer, in Zusammenarbeit mit der Kieler Verkehrs  AG . Lüthje ahnte, wie das Ergebnis aussehen würde.
    Warum hatte der Mantelmann keine Ausweispapiere bei sich? In der
Mail von Vehrs stand, dass man im Futter seines Jacketts ein Loch gefunden
hatte. Im Futter selbst hatte man ein altes, zerknittertes Lederportemonnaie
gefunden. Drei Euro sechzig Kleingeld und einen bankfrischen
Fünfzig-Euro-Schein. Und ein Schlüsselbund mit drei Sicherheitsschlüsseln,
ziemlich abgeschliffen, mit dem Namen eines bundesweit bekannten Herstellers.
Also nicht ermittelbar. Und so ging es weiter. Mantel und Jackett trugen das
Etikett eines traditionsreichen Kieler Herrenausstatters in der
Andreas-Gayk-Straße, das vor fünfundzwanzig Jahren dichtgemacht hatte. Die
Schuhe waren ein edles britisches Fabrikat einer Firma, die in Hamburg seit
vierzig Jahren eine Filiale hatte. Wenn die Schuhe eine Seriennummer gehabt
hätten und die Filiale

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