Totenreigen
Sturmstärke erreichen, obwohl in hundert
Metern Entfernung fast Windstille herrschte. »Kamineffekt« nannte man das.
Vielleicht wusste Lambert Sundermeier von dieser Wirkung, die seinen Gesang
große Entfernungen überwinden ließ.
Lüthje erkannte Melodie und Text des »Nessun dorma«, der Arie des
Kalaf aus der Oper »Turandot«. Zufall? Wahrscheinlicher war, dass Lambert
Sundermeier auf dem Plakat am Eingang den Namen der Oper gelesen hatte und
natürlich sofort die bekannteste Arie aus dem Gedächtnis abgerufen hatte.
Sie war die erste und einzige Opernarie, die Lüthje beim ersten
Hören im Kopf hängen geblieben war, in der Interpretation von Beniamino Gigli.
Als Teenager hatte Lüthje mit Hilly die Schallplatte seiner Eltern immer wieder
aufgelegt und dazu einen feierlich schmachtenden Walzer getanzt. »Nessun dorma«
war immer ein geheimer Hit, der sich sogar in den letzten Jahren einmal in die
Hitparade eingeschlichen hatte. Bei einem Rockkonzert in der Ostseehalle in
Kiel hatte eine englische Rockgruppe es bei einer Zugabe gebracht. Das Publikum
hatte getobt, und Lüthje und Hilly waren dabei gewesen.
Lüthje öffnete die schwere Stahltür und trat in den ersten Vorraum.
Der Gesang schien aus allen Wänden zu dringen, wie aus weiter Ferne
und doch tausendfach verstärkt. Die schmalen Fenster tauchten den Raum in das
trübe Licht tiefer Wasser, kurz vor dem Beginn der unendlichen Schwärze. An den
Wänden hingen Trauerkränze, Gedenktafeln und üppige Gemälde von Seeschlachten,
aufgeschlagene Bücher in gläsernen Vitrinen. Alles erzählte vom Tod auf See.
Es musste weit über fünfzig Jahre her sein, dass Lüthje hier gewesen
war. Bevor man in das eigentliche Treppenhaus kam, musste man zwei Stockwerke
auf Niedergänge, wie man die Treppen auf einem Schiff nannte, hinaufsteigen.
Sie waren so schmal, dass nur ein Mann Platz hatte, und mit hohem Geländer
ausgestattet, damit einen auf einem Schiff nicht der Seegang über Bord kippte.
Im nächsten Stockwerk lag rechts ein Raum ohne Licht und Fenster, so
schwarz wie der Eingang ins Nichts. Als Lüthje die letzte Treppe hinaufstieg,
umfing ihn ein kalter Luftstrom. Dann kam die letzte Stufe, und er stand in dem
Stockwerk, wo das eigentliche Treppenhaus anfing. Über Lüthje erhoben sich
ungefähr sechzig Meter. Hier gab es keinen Stockwerkabsatz, der den Blick vor
der Höhe schützte. Die Treppen waren an die Nordwand »geklebt«. An den
Geländern oder im Treppenhaus waren keine Fangnetze gespannt. Vielleicht war
der Bodenbelag hier nicht nur wegen eindringenden Regenwassers aus abwaschbarem
Kunststoff.
Er sah nach oben und suchte Lambert Sundermeier. Lüthje wusste nicht
einmal, ob er es war, der dort sang. Als die Worte »Vincerò!
Vincerò!«, »Ich werde siegen, ich werde siegen«, sekundenlang
nachhallten, glaubte Lüthje, ihn zu sehen. Lamberts Hände umschlossen das
Treppengeländer, das Gesicht war zur gegenüberliegenden Wand des
Treppenhausschachtes gewandt. Das war in etwa vierzig Metern Höhe, dort, wo die
Treppen in der Dunkelheit der fensterlosen Höhe verschwanden.
Lüthje trat weiter zurück in Richtung der gegenüberliegenden Wand,
ohne den Kopf zu senken, um mehr von Lamberts Gestalt zu sehen. Aber er wusste
plötzlich nicht mehr, ob er nach oben oder nach unten sah. Die Wände begannen
sich um ihn zu drehen. Lüthje wankte zurück, griff zum Treppengeländer, das
neben ihm auftauchte, setzte sich auf eine Stufe und atmete tief durch.
Als er endlich wieder draußen war, wischte er sich mit dem Ärmel den
kalten Schweiß von der Stirn. So fühlt man sich eben, wenn man fast nichts zum
Frühstück gegessen hat, dachte Lüthje, als er das Drübbisch-Haus erreichte.
Wahrscheinlich war ihm deshalb eben der Kreislauf abgestürzt. Es ging ihm wieder
besser. Das Fahrzeug der Tatortreiniger stand noch vor dem Haus, und von
drinnen hörte Lüthje ein staubsaugerähnliches Geräusch.
Er schwang sich aufs Fahrrad und bedankte sich bei der
Streifenwagenbesatzung auf der gegenüberliegenden Seite der Strandstraße mit
einem Tippen an die Stirn. Er stieg auf das Damenfahrrad und trat etwas
unsicher in die Pedale.
4.
In Laboe konnte man Strandkörbe an einer Strandbude
mieten. Und solange es in den Strandbuden alles gab, was sonst noch zum
Strandleben gehörte, war das Leben in Ordnung. Damals waren es Speiseeis,
Segelflieger aus buntem Plastik mit Drehflügeln, extra lange Kaugummis, die
Ur-Coca-Cola, Micky Maus und Fix und Foxi, Sigurd, der
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