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Totenreigen

Totenreigen

Titel: Totenreigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Lykk
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Sinn. Die Logik, die jedem Musikstück innewohnt – er
entdeckt Bausteine, die er in einer Millionstelsekunde neu erfindet, falls es
sie noch nicht gibt, und passt sie ein, wo er sie braucht, um eine ihm vorher
unbekannte Komposition zu singen. Er kann ein Stück in Dur oder in Moll singen,
wenn man ihn dazu auffordert oder ihm gerade danach ist. Er kann sie variieren
wie ein Jazzmusiker. Wenn ich ihn frage, ob er einen gregorianischen Gesang aus
dem 10. Jahrhundert rückwärts singen kann, macht er es auf der Stelle,
ohne erst darüber nachzudenken. Und variiert die Melodie wie ein Komponist,
aber ohne wirklich zu komponieren. Er spielt mit den Puzzlesteinen und setzt
sie neu zusammen, damit neue Bilder entstehen. Na ja, eigentlich macht auch ein
Komponist nichts anderes.«
    »Vielleicht macht er es einfach nur, um Ihnen eine Freude zu
machen«, sagte Lüthje.
    »Diesen Wunsch kann er nach Meinung der Ärzte nicht fühlen. Aber ich
denke darüber wie Sie, Herr Lüthje. Ich habe mit Lambert Momente erlebt, in
denen er mit mir Kontakt aufgenommen hat. Aber darüber rede ich eigentlich
nicht, seit es eine Kapazität mir zerreden wollte.«
    »Ich verstehe. Sie möchten mit Lambert in Ruhe gelassen werden. Und
jetzt kommt die Frage, auf die Sie gewartet haben. War um ziehen Sie nicht weg
von hier? Ihre Antwort lautet: Das können Sie Ihrem Sohn nicht antun. Hab ich
recht?«
    »Mehr noch: Es würde Lambert umbringen. Er braucht seine gewohnte
Umgebung und Ordnung. Sie haben erlebt, wie ihn Ihre Anwesenheit im
Strandzimmer gestört hat. Sie können sich vielleicht vorstellen, was es für ihn
bedeutet, plötzlich in ein fremdes Haus oder eine Mietwohnung zu ziehen. Wissen
Sie, was er vorhin im Strandzimmer wollte? Jedes Mal, wenn er das Haus
verlässt, muss er sich orientieren, verorten nennt er
das. Das tut er, indem er das Fensterkreuz im rechten der beiden Fenster dieses
Zimmers mit den Händen erfühlt, mit den Füßen dabei diese Bewegung begleitet.
Rechts ist das Ehrenmal, links geht es zur Ortsmitte und zur Gemeindebücherei.
Danach isst er eine Schale Cornflakes mit Milch. Sie haben die Schale vorhin
vielleicht gesehen.«
    »Ich verstehe«, sagte Lüthje. Er erhob sich, und Sundermeier
begleitete ihn zur Haustür.
    »Eine letzte Frage noch«, sagte Lüthje. »Wissen Sie, wer das Kleid
an der Hauswand zum Garten nebenan aufgehängt hat?«
    »Nein. Ich habe das Kleid irgendwann dort bemerkt, das ist alles.
Ich dachte mir, Frau Drübbisch hätte es zum Trocknen aufgehängt und vergessen,
als sie ausgezogen ist. Vor einigen Monaten war das.«
    »Hat sie das öfter gemacht? Ich meine, das Kleid zum Trocknen an der
Hauswand aufgehängt?«
    »Nicht dass ich wüsste«, sagte Albert Sundermeier. »Ich sagte Ihnen
schon, dass mich die Nachbarschaft nicht interessiert. Und solche Details schon
gar nicht.«
    Als er die Haustür öffnete, hielt er inne und zog sie bis auf einen
Spalt wieder zu.
    »Ich weiß, Sie gehen jetzt ins Ehrenmal, um Lambert singen zu hören.
Aber beachten Sie, wenn er merkt, dass man sich ihm nähert, verstummt er.
Bleiben Sie unten. Da klingt es am besten. Und noch etwas.« Er steckte den Kopf
durch den Türspalt und sah zur Strandstraße, als fürchte er, dass ihn von dort
jemand belauschen könnte. »Wenn Sie Lambert wieder begegnen, müssen Sie damit
rechnen, dass er Sie nicht wiedererkennt. Er kann sich fremde Gesichter nicht
merken. Als Zeuge ist er für Sie deshalb unbrauchbar. Ich wünsche Ihnen viel
Erfolg bei Ihrer Arbeit.«

3.
    Auf dem Weg zum Ehrenmal schaltete Lüthje sein Handy von
stumm auf normal. Er hatte mittlerweile zwei SMS und eine MMS von Malbek bekommen. Der platzte
also vor Neugier.
    »Wenn du den Rat eines erfahrenen Kollegen brauchst …«, schrieb
Malbek. Vielleicht hatte er es auch Sophie diktiert. »…  Feel free to call him . MMS folgt. Screenshot des aktuellen Luftdrucks mit Sturmfeldern. Schnellläufer.
Zugrichtung noch unklar. Kerndruck 965 hp westlich Irland. Fallend. Suchen
Unterschlupf für ›Skipper‹ und für uns ein stabiles Hotel. Gibt hervorragende
Ales hier.«
    »Skipper« war der Name seines betagten Wohnmobils. Wenn das ein Dach
über dem Kopf brauchte, würde es da wohl stürmisch werden. »Schnellläufer«
hieß, dass die Vorhersagen über die Zugrichtung des Unwetters erst Stunden vor
dem Eintreffen sicher waren. Auf die Prognosen des Hobbymeteorologen Malbek war
bisher Verlass gewesen. Beruhigend, dass das Wetter während der Kieler

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