Totenreigen
Sundermeier.
Ich bin ihm eben begegnet und mache mir Gedanken. Das ist alles. Erzählen Sie
mir, was Sie beruflich machen.«
»Ich bin pensionierter Studiendirektor.« Er lächelte unsicher. »Der
gegenwärtig einzige Studiendirektor Deutschlands mit dem Lieblingsfach Musik.
Ich versuche meinen Traum von einer Katalogisierung aller gregorianischen
Gesänge zu verwirklichen. Auch digital. Ich arbeite mit einigen Kollegen im In-
und Ausland zusammen. Es geht dabei nicht nur um einen bestimmten
Zeitabschnitt, zum Beispiel des elften Jahrhunderts, sondern um das gesamte
gegenwärtig verfügbare Wissen über diese Musik. Lambert hilft mir dabei.
Außerdem ist er Teilzeitkraft in der Gemeindebücherei.«
»Und wie hilft Ihnen Lambert dabei?«
»Das ist offensichtlich Ihr Lieblingsthema, Herr Lüthje. Mein Sohn
Lambert.«
»Ich sagte Ihnen doch, es interessiert mich.«
»Na gut. Es gab und gibt sehr viele unschöne Vorfälle im Dorf. Es
gibt für Lambert eine Grenze, die niemand überschreiten sollte. Wo die genau
ist, weiß ich auch nicht. Aber indem ich das hier sage, wird mir klar, dass ich
Ihnen gegenüber darüber reden kann, ohne missverstanden zu werden oder
befürchten zu müssen, dass das, was ich sage, verdreht wird.«
»Sie reden immer noch in Rätseln«, sagte Lüthje lächelnd.
»Wir haben natürlich professionelle Hilfe, ich weiß, wo ich anrufen
kann, wenn ich mit Lambert nicht weiterweiß. Die Ärzte haben abwechselnd die
Worte Autismus, Asperger-Syndrom, Savant-Syndrom gebraucht und gestritten,
welche Diagnose im Vordergrund steht und welchen Stellenwert die anderen haben.
Außerdem streitet man sich, ob es eine Krankheit oder nur eine Normvariante
ist. Ich kenne Lambert besser als diese Kapazitäten und weiß, dass er eine
milde Form des Autismus mit den Sonderlichkeiten des Asperger-Syndroms und der
Inselbegabung des Savant-Syndroms hat. Er selbst sagt dazu, dass
Asperger-Autismus und Savant-Autismus eine Untermenge von Autismus sind.«
»Was heißt das?«
»In allem, was er tut, wird er von der Außenwelt als sehr sonderlich
wahrgenommen. Schüchtern, eigenbrötlerisch, sonderlich, unsozial, das sind die
Bezeichnungen, die da bereitgehalten werden. Er hat keine Freunde oder
Bekannten. Er ist allein mit sich. Und er weiß, dass ich da bin. Solange er
denken kann. Es ist, wie es ist.«
Die Haustür fiel ins Schloss. Albert Sundermeier hob den Kopf,
nickte und wandte sich wieder Lüthje zu.
»Das war Lambert, er ist zum Ehrenmal gegangen. Es ist nicht immer
die gleiche Zeit, er hat eine kleine Variation eingeführt, mal eine Stunde
früher, dann wieder pünktlich, eine Stunde später, dann zweimal eine Stunde
früher … ich würde gern wissen, was dahintersteckt.«
»Was macht er dort?«
»Er singt im Treppenhaus. Ziemlich weit oben. Er fährt mit dem
Fahrstuhl hoch und steigt ein paar Stockwerke tiefer. Sonst fehlt ihm der Atem,
hat er mir erzählt.«
»Seit wann macht er das?«
»Es fing an, als er zwölf oder dreizehn war. Ich habe mir oft genug
darüber den Kopf zerbrochen. Vielleicht weil wir auf der Rückseite des Hauses
eine Treppe haben. Allerdings eine Wendeltreppe. Ich habe sie aus Angst vor
einem Hausbrand anbauen lassen. Sehen Sie, das ist mein Problem. So, jetzt packen Sie mal aus, Herr Kommissar.«
Er beugte sich zu Lüthje vor.
»Ich bin in Laboe geboren und aufgewachsen und finde das Treppenhaus
im Ehrenmal gruselig.« Punkt. Mehr wollte Lüthje von sich nicht preisgeben.
Schon gar nicht das, was er letzte Nacht geträumt hatte. »Sie wohnen hier
allein mit Ihrem Sohn?«
»Seine Mutter hat vor über dreißig Jahren das Weite gesucht.«
»Haben Sie oder Ihr Sohn noch Kontakt zu ihr?«
»Nein, sie meinte, es sei Lambert doch egal.« Er zuckte mit den
Schultern. »Herr Lüthje, ich möchte das Gespräch jetzt beenden. Ich würde mich
gern an meine Arbeit machen. Ich muss die Post durcharbeiten und …« Albert
Sundermeier warf den Handzettel in einen Papierkorb, griff seinen Poststapel
und erhob sich.
»Nur eine Frage noch. Hat Lambert jemals Gesangsunterricht
bekommen?« Lüthje blieb sitzen.
Es wirkte. Sundermeier setzte sich wieder.
»Nein. Einer der Ärzte hatte mich auch gefragt, ob er ein paar Studien
mit ihm treiben könnte. Aber ich will nicht, dass er vorgeführt wird wie ein
Tanzbär. Die Leute verstehen nicht, wie er die Musik erlebt. Für uns, Sie und
mich, ist Musik Gefühl. Und was sagt Lambert? Musik ist Matrix! Er analysiert
sie mit einem uns fremden
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