Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenreigen

Totenreigen

Titel: Totenreigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Lykk
Vom Netzwerk:
Woche
erfahrungsgemäß entweder frühlingshaft mild und sonnig oder frühlingshaft
verregnet und kühl war.
    Der Parkplatz vor dem Ehrenmal war ein Fuhrpark für Beschallung und
Bühnenbau. Lüthje zog es vor, sich eine Eintrittskarte im Kassenkiosk zu
kaufen, statt die Dienstmarke vorzuzeigen. An der Eingangstür hing ein Plakat
mit einer auf schlitzäugig geschminkten Sängerin, vor der ein ebenso schlitzäugiger
Mann in rot schimmernder Rüstung schmachtete. »Turandot« in Laboe.
    Lüthje musste sich in einer Warteschlange anstellen, weil die
Verkäuferin im Gespräch mit einem Mann war, der dem Marinebund einen
bebilderten Gedenkband über einen bedauerlicherweise im Zweiten Weltkrieg
versenkten Zerstörer verkaufen wollte. Die Verkäuferin gab dem Mann schließlich
eine Telefonnummer, und ein erleichtertes Raunen ging durch die Schlange.
    Die Männer vom Sicherheitsdienst, die in ihren schwarzen Outfits und
Headsets auch im Nebel von Weitem erkennbar waren, standen streitend am
Grundstückszaun neben der Ehrenhalle zusammen und berieten wahrscheinlich, ob
man den Wald rund um das Ehrenmal nicht besser roden sollte. Dann hätte man ein
Stück Niemandsland, das leichter zu überwachen sein würde. Lüthje kannte diese
Besprechungen, in denen sich die Hahnenkämme so hoch aufstellten, dass es die
Sicht auf das gemeinsame Ziel behinderte.
    »Warum so hektisch?«, fragte Lüthje einen Bühnenarbeiter, der in
einem Aluminiumkoffer voller Klinkenstecker und Audiobuchsen herumsuchte.
    »Die Generalprobe ist schon übermorgen, dann muss hier alles so
funktionieren wie bei der Uraufführung«, sagte der Mann. Er zog eine
Plastikflasche aus dem Gürtel und nahm einen tiefen Schluck. »Bisschen heiß für
Juni, finden Sie nicht auch?«, fragte er. »Mögen Sie auch einen Schluck?«
    Er hielt Lüthje die Flasche hin.
    »Nein, danke. Wird denn schon geprobt?«
    »Nö. Wieso?«
    »Da singt doch jemand. Hören Sie das nicht?«, fragte Lüthje und hob
den Zeigefinger zum Ohr. Vielleicht hatte der Mann bei den Soundchecks einen
Hörschaden erlitten.
    »Ach, das meinen Sie«, sagte er, offenbar erleichtert, dass er etwas
gehört hatte. »Nein, der erste Soundcheck wird erst morgen stattfinden. Sänger
und Orchester üben ja schon wochenlang irgendwo im Saal. Nee, diese Musik kommt
vom Parkplatz. Da hat jemand von uns wahrscheinlich vergessen, das Autoradio
auszumachen.«
    »Aber kommt der Gesang nicht vom Ehrenmal?«
    Der Mann sah mit ärgerlicher Miene in die Richtung. »Das Ding
reflektiert doch alles. Manche Frequenzen werden unterdrückt, andere
hervorgehoben. Ein völlig verrücktes Frequenzprofil. Deswegen hört man kein
Orchester. Fragen Sie mal unseren Tontechniker dahinten am Mischpult. Der kann
Ihnen das genau erklären. Die Akustik hier ist nämlich beschissen.«
    Lüthje dankte dem Mann für seine anregenden Informationen.
    Anfang des letzten Jahrhunderts war auf dem Vorplatz, auf dem jetzt
Zuschauertribüne, Bühne und Technik aufgebaut wurden, ein großes
Schiffsgeschütz im Erdreich verankert worden, das bis zum Baubeginn des
Ehrenmals Mitte der zwanziger Jahre die Außenförde und die Kieler Bucht im
Visier hatte.
    Unter dem Vorplatz lag die kreisrunde Gedächtnishalle, die Lüthje
als Kind für ein unterirdisches Mausoleum gehalten hatte. An der Wand hingen
Trauerkränze mit beschrifteten Schleifen, die Lüthje als kleiner Junge nicht
lesen konnte. Damals glaubte er, dass im Gemäuer hinter jedem Kranz ein im
Krieg getöteter Soldat begraben lag.
    Das Opern-Event und die Sicherheitsvorkehrungen interessierten
Lüthje nicht.
    Er war hier, um den Mann zu sehen und zu hören, der laut Frau
Klockemann mit seinem Gesang Unglück über das Dorf und den Fluch über das
Drübbisch-Haus gebracht hatte und Menschen in den Tod treiben konnte. Und nach
Ansicht seines Vaters kein geeigneter Zeuge war, weil er sich schlecht oder gar
nicht an Gesichter erinnern könne.
    Lüthje stand direkt auf dem Fuße des Ehrenmals vor der Eingangstür
und sah zur »Skischanze« hoch. So nannten sie in der Schulzeit die zur
Landseite schwungvoll gebogene Rückseite des achtzig Meter hohen Bauwerks. In
der Schule hatte er erfahren, dass die Biegung die »Anmutung« der Bugpartie der
Kriegsschiffe darstellte, wie sie im Kaiserreich gebaut worden waren.
    Lüthje hörte Lambert Sundermeiers Gesang aus wechselnden Richtungen,
weil der Wind an den Wänden des Turmes durch Steig- und Fallwinde verwirbelt
wurde. Für Sekunden konnte er hier

Weitere Kostenlose Bücher