Totenreigen
Krankenschwester
beruhigt zu sein und ging voraus in das Krankenzimmer. Sie sah prüfend auf den
Patienten und die Geräte, bedeutete Lüthje, auf einem Stuhl Platz zu nehmen,
der neben dem Bett stand, und verließ das Zimmer.
Der Mantelmann lag in einer Art Nachthemd, dessen Schleife am Hals
verriet, dass es keine Rückseite besaß. Er schien zu schlafen.
Merkwürdigerweise hing sein Kopf nicht zur Seite, und sein Mund stand nicht
offen. Schläuche und silberne Drähte schienen aus Geräten mit flimmernden
Monitoren in seinen Kopf und Körper gekrochen zu sein. Ein Tropf stand neben
ihm.
Eine Klimaanlage hielt die Temperatur im angenehmen Bereich. Die
Sonne gab dem Zimmer die Atmosphäre eines sorgenlosen Nachmittags. Wenn sich da
nicht die mehr oder weniger gleichmäßigen Herztöne in das lebhafte
Vogelgezwitscher aus den Bäumen vor dem Krankenhaus eingemischt hätten.
Lüthje setzte sich auf den Stuhl, beugte sich nach vorn.
»Ich hatte Sie an der Bushaltestelle angesprochen«, sagte er leise.
»Ich hatte Sie nach der Abfahrtszeit gefragt. Sie haben mir das Schild mit dem
Fahrplan gezeigt. Ich hab es einfach nicht gesehen. Ich hab mich im Bus nach
Kiel schräg hinter Sie gesetzt. Nicht Ihretwegen, nein, ich sitze im Bus immer
so, ein paar Bänke hinter dem vorderen Einstieg. Ich hatte mir Sorgen um Sie
gemacht. Und bin Ihnen gefolgt, als Sie an der Station Hummelwiese ausstiegen.«
Die Geräte signalisierten keine Reaktion.
Das Gesicht des Mantelmannes sah verändert aus. In Lüthjes
Erinnerung war es ein glatt rasiertes, aber verschattetes Gesicht, das im
Schock erstarrt war. Jetzt trug das Gesicht einen Dreitagebart. Das ließ ihn
jungenhaft erscheinen, die Haut wirkte faltenloser, glatter, aber blasser, die
Nase spitzer.
Kannte der Mantelmann mindestens einen der Menschen, die Lüthje seit
gestern kennengelernt hatte? Ingrid Klockemann, Ursula Drübbisch, Jochen
Klockemann? Horst Drübbisch? Albert Sundermeier, Lambert Sundermeier? Wenn
Lüthje nun diese Namen hier laut aufzählen würde, einen nach dem anderen, und
nach jedem Namen eine Pause machen würde, in der Hoffnung auf eine Reaktion des
Mantelmannes … Vielleicht würde eines der Geräte ansprechen. Würde wenigstens
sein Unterbewusstsein reagieren? Oder war der richtige Name nicht dabei? Aber
wenn dann bei einem Namen der Herzstillstand eintreten würde?
Die Tür öffnete sich, und ein Mann in Arztkleidung trat ein. Lüthje
stand auf.
»Janz«, stellte sich der Arzt vor, gab Lüthje die Hand und wandte
sich dem Patienten und den Geräten zu.
»Hallo, Herr Schulz«, sagte Dr. Janz in normaler Lautstärke.
»Wie geht es Ihnen?« Er ergriff die schlaffe Hand des Patienten und sah ihm
prüfend ins Gesicht. »Herr Lüthje hat Sie eben besucht. Ich gehe jetzt mit ihm
in mein Zimmer und unterhalte mich mit ihm. Ich komme nachher wieder.«
Dr. Janz nickte Lüthje zu, und sie gingen über den Flur in das
gegenüberliegende Arztzimmer. Dr. Janz setzte sich hinter seinen
Schreibtisch, Lüthje nahm ihm gegenüber auf dem Besuchersessel Platz.
»Wieso haben Sie ihn mit ›Herr Schulz‹ angeredet?«, fragte Lüthje
erstaunt.
»Haben Sie inzwischen einen besseren Namen für ihn? Vielleicht sogar
den richtigen?«, fragte Dr. Janz.
Lüthje schüttelte den Kopf. ›Mantelmann‹ war ein Arbeitsname
innerhalb der Ermittlungsgruppe, mit dem er ihn nie anreden würde.
»Wir mussten ihm einen Namen geben«, sagte Dr. Janz. »Wir
können nicht von ihm als Patient Nummer 17 sprechen. Schon gar nicht, wenn
wir ihn ansprechen. Und das nicht nur, weil er heute Morgen einmal zumindest
auf Ansprache reagiert hat. Es ist nicht auszuschließen, dass er inzwischen
alles, was um ihn herum gesprochen wird, versteht, allerdings ohne darauf
angemessen reagieren zu können. Wenn er nicht Schulz heißt, wird er sich Mühe
geben, uns irgendwann darauf hinzuweisen, dass er einen anderen Namen hat, ja,
ihn vielleicht sogar nennen. Auf jeden Fall fordert es ihn in diesem Stadium
und unterstützt seine Selbstheilungskräfte. Selbstverständlich müssen Sie
vorsichtig sein mit dem, was Sie ihm sagen.« Er lächelte. »Nicht dass Sie
denken, Sie könnten gleich mit der Befragung beginnen. Das ist nicht absehbar.
Für heute sollten Sie es genug sein lassen.«
»Das hört sich gut an«, sagte Lüthje. »Wir sind noch keinen Schritt
weitergekommen, was seine Identität angeht. Ich habe noch eine andere Frage.
Wieso ist der Patient … Herr Schulz, vom Notarztwagen erst in
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