Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Totenruhe

Titel: Totenruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
Vom Netzwerk:
»War sie betrunken?«
    »Also wirklich, Söhnchen, so darfst du nicht von ihr denken«, mahnte der Polizist.
    »Natürlich war sie betrunken«, sagte Adam.
    »Und was wird jetzt aus uns?«, erkundigte sich Mitch.
    Der Polizist, der seine wahren Ängste nicht kannte, sagte: »Es wird alles gut. Keine Sorge.«
    »Großvater ist schon unterwegs. Wir ziehen in seinen Palast.«
    »Zusammen?«, fragte Mitch.
    »Immer«, erwiderte Adam und zerzauste ihm die Haare. »Ich würde mich nie von meinem kleinen Bruder trennen lassen.«
     
    Ihr Großvater, Theodore Granville, erwies sich als gewiefter, aber zumindest gegenüber seinen Enkeln durchaus freundlicher
Mann. Es belustigte ihn, dass die Jungen ihn »Häuptling« nannten, und er wollte von ihnen lieber so angesprochen werden als mit »Großvater«. Den größten Teil seines Vermögens hatte er mit Öl und später mit Immobilien gemacht, doch mittlerweile engagierte er sich auf vielen verschiedenen Gebieten. Er stammte keineswegs aus altem Geldadel, sondern war ein Selfmademan, der sich aus dem elenden Dasein als Versuchsbohrer auf den Ölfeldern hochgearbeitet hatte, und als solcher schreckte er nicht davor zurück, sämtliche Mittel einzusetzen, um über einen Rivalen zu triumphieren.
    In den ersten Jahren wollte er sich nicht allzu häufig mit seinen Enkeln abgeben, und das war den beiden ganz recht. Adam schärfte Mitch ein, dass sie alles tun mussten, was der alte Herr verlangte, weil ihr Glück genauso schnell zerrinnen konnte, wie sie es gewonnen hatten. Mitch war zwar der Meinung, dass der Häuptling Adam schon viel zu sehr ins Herz geschlossen hatte, um sie jetzt noch hinauszuwerfen, aber dennoch beachtete er Adams Warnungen.
    Also hielten sie sich an die Wünsche des Häuptlings, waren stets sauber und ordentlich angezogen, lernten rasch die Benimmregeln, deren Einhaltung er ihnen abverlangte, und störten nie bei einer seiner Besprechungen oder kreuzten den Weg seiner Gäste. Im Gegenzug erfüllte er ihnen sämtliche Bedürfnisse, was Essen, Kleidung und Wohnraum anging, und gestand ihnen ein großzügiges Taschengeld zu.
    Adam, der sich schneller langweilte als Mitch, stürzte sich schon bald in kühnere Abenteuer außer Haus. Nachdem er die Erfahrung gemacht hatte, dass er Talent als Dieb und als Bandenführer besaß, brachte er es nicht über sich, diese beiden Betätigungen aufzugeben. Er schaffte es, seinen Großvater dazu zu überreden, ihm ein schnittiges Boot zu kaufen. Später wurde sein Großvater zu seinem Geschäftspartner und teilte sich mit Adam die Gewinne aus dem Alkoholschmuggel.
    Während der Depression erlitt ihr Großvater einige finanzielle
Rückschläge, wahrte jedoch so gut es ging den Schein. Noch im Teenageralter erfuhr Mitch, dass Adam und der alte Herr eine Reihe gemeinsamer Geschäfte betrieben, die nicht alle legal waren, und die beiden begannen nun, Mitch darauf vorzubereiten, seinen Platz in diesen Organisationen einzunehmen.
    Mitch bewegte sich in höheren gesellschaftlichen Kreisen als sein Bruder und bekam sogar Zugang zu Häusern, in denen sein Großvater nicht erwünscht war. Aber natürlich stand auch ihm nicht jede Tür offen. Er zog das Interesse von Lillian Vanderveer auf sich, doch ihre Eltern lehnten ihn ab und taten ihr Möglichstes, um die beiden zu trennen.
    Adam heiratete ein Mädchen, das zwar hübsch, aber nicht besonders intelligent war. Der Häuptling bestand darauf, dass Adam und seine Frau weiterhin in seiner Villa wohnten. Sie bekamen zwei Söhne - 1934 kam Eric zur Welt und ein Jahr später Ian. Mitch liebte sie, als wären sie seine eigenen Kinder. Das Leben war schön.
    Ende 1935 war Adams Glückssträhne beendet. Er wurde festgenommen.
    Der Häuptling ließ alle seine Beziehungen spielen, doch es war vergeblich. Die Zeitungen schlachteten Adams Verhaftung weidlich aus. Der alte Mann war am Boden zerstört. Er starb am Neujahrstag 1936, und Mitch sagte sich später, dass ihm das als Warnung dafür hätte dienen sollen, wie schrecklich das Jahr noch werden würde.
     
    Mittlerweile war die Milch lauwarm geworden, und Mitch stellte das Glas beiseite. Er schaltete die Eisenbahn ab und trat an seinen Schreibtisch. Dort blieb er eine ganze Weile stehen und musterte zwei der gerahmten Fotos auf der Tischplatte. Auf einem war sein Bruder Adam im Alter von etwa zwanzig Jahren zu sehen. Er lächelte und schaute so anmaßend wie immer. Das andere zeigte Mitchs Adoptivsohn im Alter von etwa
zehn Jahren - den Jungen,

Weitere Kostenlose Bücher