Totenruhe
der sich jetzt Max Ducane nannte, den Jungen, der kürzlich in aller Öffentlichkeit sämtliche Verbindungen zu den Yeagers gekappt hatte.
Er griff nach dem Foto von Kyle und starrte es an.
Warum hatte er ihm überhaupt jemals einen Namen gegeben? Was glaubte der kleine Scheißer eigentlich, was aus ihm geworden wäre, wenn er nicht adoptiert worden wäre? Statt ihn das Schicksal erleiden zu lassen, das er verdient hätte, hatte er diesem Balg seinen eigenen Namen gegeben, den Namen seines Bruders, den Familiennamen und noch viel mehr. Mehr als er selbst als Junge je besessen hatte. Er hatte dem kleinen Arschloch das College finanziert - noch dazu eines der allerbesten. Billig war das nicht gewesen.
Einen Augenblick lang wünschte er, seine eigenen Kinder wären auch nur halb so intelligent wie Kyle, aber leider hatten sie ihren Verstand von ihrer Mutter geerbt.
Das nahm ihn allerdings auch nicht mehr für Kyle ein. Natürlich hatte er stets seine eigenen Beweggründe für alles gehabt, was er zugunsten seines Adoptivsohns tat, aber was spielte das schon für eine Rolle?
Der Junge hatte ihn schlicht und einfach verraten. Zur Hölle mit ihm und zur Hölle mit Warren Ducane.
Er legte das Foto mit der Bildseite nach unten in eine Schreibtischschublade.
Dann griff er zum Telefon und wählte eine Nummer.
»Habt ihr ihn schon gefunden?«, fragte er.
Er erhielt nicht die gewünschte Antwort.
Heute würde ihm nichts zu seinem Nachtschlaf verhelfen.
25
O’Connor schaffte es, mir eine Woche lang aus dem Weg zu gehen. Ich machte es ihm leicht. Er recherchierte über Warren Ducanes Verschwinden - das man für freiwillig hielt - und die Max-Ducane-Geschichte, und so war er nicht oft in der Redaktion.
Er nahm sich die Zeit, Bennie Lee Harmon zu interviewen, der Ende der Fünfzigerjahre wegen Mordes an zwei Prostituierten aus Las Piernas verurteilt worden war. Harmons Verurteilung zum Tode war genau wie bei ungefähr hundert weiteren Gefangenen infolge einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von 1972 in eine lebenslange Haftstrafe mit der Möglichkeit einer Freilassung auf Bewährung umgewandelt worden, und die kalifornische Bewährungsbehörde hatte ihn als »vorbildlichen Strafgefangenen« nun auf freien Fuß gesetzt. O’Connor gab sich alle Mühe, Interesse an der Freilassung dieses Mörders zu wecken, doch die meisten, die in dem Fall ermittelt hatten, lebten nicht mehr, von den Familien der Opfer erschien niemand zur Anhörung vor der Bewährungsbehörde, und Harmon hatte offenbar nicht vor, nach Las Piernas zurückzukehren, und so rutschte die Geschichte rasch auf die hinteren Seiten und ging bald völlig unter.
Ich ging ebenfalls unter. Ich war wieder zum Pendant eines Redaktionsboten geworden.
Diese geistlose Arbeit war mir ganz recht, da mein Vater ein schlechtes Wochenende hinter sich hatte, was meine Gedanken und meine Zeit weit mehr in Anspruch nahm als das Bedürfnis, mich mit O’Connor auszusöhnen. Außerdem befreite es mich von jeglichem Ehrgeiz, der mich vielleicht geritten hätte, den besten Artikel aller Zeiten über die Parkuhren neuen Typs zu verfassen, die man in der Innenstadt aufgestellt hatte. Ab Mittwoch ging es Dad besser, und ich konnte mich wieder auf meine Arbeit konzentrieren.
Am Freitagmorgen fuhr ich an den südöstlichen Stadtrand, um dort meiner - wie ich hoffte - bisher größten beruflichen Herausforderung zu begegnen: einem abgegriffenen Thema eine interessante Geschichte abzuringen. Mein faszinierender Auftrag lautete, über die Grundsteinlegung für ein Einkaufszentrum zu berichten.
»Sie sind eine Frau, Sie müssten es hinkriegen, es so zu schreiben, dass es die Damen anspricht«, sagte Pierce, einer der alten Kämpen, und hielt das für eine Ermunterung.
Für die Maßstäbe von Las Piernas würde es ein großes Einkaufszentrum werden. Es sollte auf einem der letzten Stücke Ackerland auf Stadtgebiet entstehen. Ich hatte davon geträumt, mir eine etwas interessantere Perspektive einfallen zu lassen - zum Beispiel aus der Sicht des Farmers aus dem Südosten von Las Piernas, der traurig zusehen musste, wie seine frühere Lebensgrundlage zu einem Parkplatz asphaltiert wurde. Zwar nicht ganz der Verlust des Paradieses wie in dem alten Song von Joni Mitchell, aber fast.
Dummerweise war der frühere Besitzer, ein Mann namens Griffin Baer, schon ein paar Jahre tot, und dem Anwalt zufolge, der den Verkauf für die Erben geregelt hatte, hatte Baer weder dort gelebt noch
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