Totenruhe
»Danach war ich Redaktionsbote. Meinen ersten Artikel habe ich erst mit vierzehn verkauft.«
»Mann, dann sind Sie also erst seit popligen sechsunddreißig Jahren Reporter … Ich seit zwei. Also würde ich sagen, wir sollten zugunsten der Story beschließen, dass Sie das Sagen haben.«
»Davon wird Wrigley nichts hören wollen.«
»Stimmt, er wird auch nichts davon hören.«
»Das habe ich nicht gemeint, das wissen Sie ganz genau. Scheuen Sie sich nicht davor, es mal zu probieren. Ich sage es Ihnen offen, wenn ich finde, dass Sie etwas vergessen haben oder einen Irrweg verfolgen.«
Ich sah auf die Uhr. »Wir haben keine Zeit zum Streiten.«
»Als erste Entscheidung ist das schon mal gut.«
Wie du willst, dachte ich mir. »Verraten Sie mir, was in der Schachtel ist.«
»Notizen und ein paar Fotos, die ich vor Jahren gemacht habe. Nichts, was schon heute in einem Beitrag Verwendung finden muss, aber ich gehe mal alles mit Ihnen durch, wenn wir den ersten Artikel fertig haben.«
»Na gut. Wenn Sie im Zeitungsgebäude sind, sprechen Sie mit Lydia Ames.«
»Der Feuilleton-Redakteurin?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Sie wissen ganz genau, wer sie ist, weil Sie sie schon mit Fragen über mich gelöchert haben. Wrigley verschwendet ihr Talent im Feuilleton, aber das spielt im Moment keine Rolle. Sie hat die Vorgeschichte über die Eigentumsverhältnisse an dem Grundstück für das geplante Einkaufszentrum recherchiert - die Farm. Sagt Ihnen der Name Griffin Baer irgendwas?«
»Nein … ich glaube nicht.«
»Na, vielleicht findet sie ja heraus, dass der Besitzer 1958 jemand anders war. Dessen Name wäre dann wohl eher Ihnen als mir bekannt.«
»Okay. Noch was?«
»Die Hintergründe zum Verschwinden der Ducanes. Können Sie darüber schreiben?«
»Sicher.«
Er stieg mitsamt seiner Schachtel aus. Nachdem er die Tür zugemacht hatte, bückte er sich von seiner hünenhaften Höhe herunter und sprach durchs offene Fenster. »Vielleicht wäre es besser, wenn ich zum Coroner gehe, Irene. Es ist nicht … erfreulich.«
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich habe keine Angst vor den Toten.«
»Sollten Sie aber. Manchmal machen sie nämlich mehr Ärger als die Lebenden«, sagte er und ging davon.
29
Ich stand auf dem Parkplatz vor dem Büro des Coroners und schloss gerade den Karmann Ghia ab, als mir ein langer schwarzer Wagen auffiel. Eines der getönten Rückfenster war ein paar Zentimeter heruntergedreht. Auf den ersten Blick dachte ich, es sei ein Leichenwagen, aber ebenso wenig, wie diese den vorderen Parkplatz der Coroner-Behörde benutzen, benötigt ein Passagier im hinteren Teil eines Leichenwagens frische Luft. Bei näherer Betrachtung sah ich, dass es eine große Limousine war. Angesichts der Energiekrise war sie reichlich groß, noch dazu stand sie mit laufendem Motor herum.
Ein kräftiger, gut gekleideter Mann, den ich auf Ende dreißig oder Anfang vierzig schätzte, kam aus dem Büro des Coroners heraus und ging auf die Limousine zu. Er war groß und
breitschultrig, und sein muskulöser Körperbau beulte seinen Anzug etwas aus. Die Augen hatte er hinter einer verspiegelten Brille verborgen. Sein Haar war dunkel, abgesehen von einer weißen Strähne an der Stirn - eigentlich nicht so auffällig, dass er sie nicht hätte verbergen können, aber offenbar hatte er sein Haar bewusst so gescheitelt, dass man sie sah.
Das getönte Fenster fuhr nach unten, ein silberhaariger Mann schaute heraus, und sie wechselten ein paar Worte, die ich nicht verstand. Das getönte Fenster fuhr wieder nach oben, der große Mann ging um die Limousine herum zur anderen Seite und stieg ein. Als der Wagen wegfuhr, konnte ich seine in Blau und Gold gehaltenen, individuellen Nummernschilder sehen: YEAGER.
Da dämmerte mir, dass der alte Mann Kyles Adoptivvater gewesen sein musste. Mitch Yeager.
Ich betrat das Büro des Coroners mit einem Dutzend neuer Fragen im Kopf.
Der Drachen an der Rezeption wollte nicht glauben, dass der Express eine Frau als Reporterin einstellte, nicht einmal als ich ihr meinen Presseausweis unter die Nase hielt. Wäre nicht in diesem Moment Lefebvre hereingekommen, hätte sie mich womöglich an einen Wanderzirkus verkauft, ehe ich dazu gekommen wäre, mit dem Coroner zu sprechen.
Lefebvre erfasste die Lage sofort. »Das geht schon in Ordnung«, sagte er. »Ms. Kelly kann mit mir nach hinten kommen.«
Etwas an seiner Stimme oder seinem Verhalten ließ sie einlenken. Trotzdem
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