Totenruhe
neue bizarre Geschichte darüber zum Besten gegeben hat. Es war nie zweimal dieselbe.«
O’Connor lächelte und strich mit den Fingern über die Schachtel.
Ich startete den Wagen, wobei ich ganz vergessen hatte, dass ich das Radio angelassen hatte. Einen Moment lang plärrte uns »Miss You« entgegen, ehe ich das Gerät ausmachte und mich entschuldigte.
»Ich mag Musik«, sagte er. »Auch die Stones.«
Na schön, dachte ich und versuchte, mir vorzustellen, wie sich jemand über vierzig die Stones anhört. Ich ließ das Radio aus.
Er fragte mich, ob ich bereit wäre, kurz am Büro des Coroners vorbeizufahren, um vielleicht in Erfahrung zu bringen, für wann sie die Obduktionen eingeplant hatten.
»Soll ich Sie gleich hinbringen?«
»Nein. Ich habe gemeint, ob Sie vielleicht allein hingehen
würden. Bevor Sie wieder zur Zeitung zurückfahren? Ich würde ja selbst gehen, aber ich glaube, Sie haben bessere Chancen, Woolsey ein paar Informationen abzuluchsen.«
»Weil ich eine Frau bin?«
»Weil er mich nicht mag.«
»Warum?«
Er zuckte die Achseln. »Vielleicht wegen der Hannah-Artikel. Soweit ich gehört habe, findet er, dass die Artikel seine Behörde in ein schlechtes Licht rücken.«
»Weil er es gelegentlich nicht schafft, einen Toten zu identifizieren?«
»Mehr als nur gelegentlich. Vor allem stört es ihn, dass ich den Fall Hannah nicht ruhen lasse - er sieht mich als denjenigen, der ein früheres Versagen Jahr für Jahr wieder aufs Tapet bringt.«
»Ich finde die Artikel fantastisch. Sie sind wichtig und - ich weiß nicht, irgendetwas an der Art, wie Sie sie schreiben, weckt echtes Mitgefühl für die betroffenen Familien bei den Lesern.«
Mein Lob schien ihm etwas peinlich zu sein, doch er bedankte sich.
Ich reichte ihm die Filmrolle, die ich voll geknipst hatte. »Die ersten sind von der Grundsteinlegung, und dann kommen welche von den Bauarbeitern. Natürlich wird die Zeitung die drastischsten Aufnahmen von dem Wagen nicht drucken, aber ich würde die Abzüge trotzdem gern sehen. Sie könnten mir … oder jemand anders … dabei helfen, über die Geschichte zu schreiben.«
»Ich sage Bescheid, dass sie sie sofort entwickeln sollen. Mit etwas Glück sind sie schon fertig, wenn Sie in die Redaktion zurückkommen - oder zumindest nicht viel später.«
Langsam begann ich, mich zu fragen, ob er mich zur Gerichtsmedizin schickte, um mir zu helfen, mein Gesicht zu wahren, damit ich nicht in der Redaktion sitzen musste, während
er den Artikel schrieb. Ich hatte noch nie über einen Mordfall geschrieben, ob nun über einen alten oder einen neuen.
Mittlerweile waren wir an seinem Auto angelangt. »Wegen dieser Geschichte, an der wir jetzt arbeiten - was möchten Sie, das ich als Nächstes tue?«, fragte er mich.
»Was möchte ich …? Das soll ein Witz sein, oder?«
»Nein. Es ist nach wie vor Ihre Geschichte.«
Ich antwortete nicht sofort, da ich das Gefühl hatte, meine Antwort würde nicht nur bestimmen, wie es mit dieser Geschichte weiterlief. Jetzt konnte ich ihm alles heimzahlen, ihn leiden lassen und ausloten, wie ernst es ihm mit der Zusammenarbeit war. Oder ich konnte ihm sagen, was ich ihm schon immer hatte sagen wollen und ihm auch gesagt hätte, wenn wir einen besseren Start gehabt hätten.
»Ich will mit Ihnen zusammenarbeiten«, sagte ich, »aber nicht als Gleichberechtigte.«
»Wie gesagt, Sie sind der Boss.«
»Nein. Ich meine, wir arbeiten zusammen, aber Sie helfen mir, es richtig zu machen. Ich habe zwar in Bakersfield schon über Verbrechen geschrieben, aber noch nie über einen Mord - immer nur Kleinkram aus dem Polizeibericht. Autodiebstähle und Einbrüche. Solche Sachen. Noch nie über einen so spektakulären Fall. Außerdem arbeite ich erst seit zwei Jahren in dem Beruf, und Sie schon seit …«
»Ich arbeite seit zweiundvierzig Jahren für den Express .«
»Seit zweiundvierzig Jahren! So alt sind Sie doch noch gar nicht!«
Er lächelte. »Ich habe mit acht angefangen, als Zeitungsjunge.« Er sah auf die Schachtel hinab, ehe er den Blick auf irgendetwas jenseits der Windschutzscheibe richtete. Ich schaute in dieselbe Richtung, doch dort gab es nichts Erwähnenswertes zu sehen, nur eine leere Seitenstraße und die Waschbetonmauer einer Vorortsiedlung, die sich bis zu den Feldern zog, auf
denen schon bald ein Einkaufszentrum entstehen sollte. Ich studierte sein Gesicht, das gequält wirkte, als plage ihn irgendein Schmerz. Er wandte sich wieder mir zu und sagte:
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