Totenruhe
vergessen.«
»Helen, ich kann es verkraften, wenn er mich anlügt, aber nicht, wenn Sie es auch noch tun.«
Eine Weile herrschte Schweigen. »Tut mir Leid«, sagte sie schließlich.
»Dann erzählen Sie mir doch von diesem Zettel.«
»Katy hatte Angst, dass Mitch ihr Vater sein könnte.«
»Was?«
»Irene, das war eine Lüge. Ich werde Mitch nie verzeihen, dass er sie so verstört hat. Sie hätte einen fröhlicheren Geburtstag verleben sollen. Sie hätte …« Sie verstummte.
Sie weinte. Ich fühlte mich schrecklich. »Ich wollte Sie nicht aufregen, Helen …«
»Ich weiß, ich weiß. Es geht gleich wieder. Ich dachte, ich hätte Katys Tod schon vor Jahren akzeptiert. Das war wohl ein Irrtum.«
»Es ist auch noch nicht so lang her, dass Sie Jack verloren haben«, sagte ich. »Das macht es bestimmt nicht leichter.«
»Nein, sicher nicht«, bestätigte sie. Ich hörte, wie sie tief Luft holte, um sich zu beruhigen. »Sie haben nach Mitch und Katy gefragt.«
»Hat Mitch das auf ihrer Geburtstagsfeier zu ihr gesagt?«
»Nein. Mitch war nicht auf der Feier. Rufen Sie doch Lillian an. Sie kann Ihnen bestimmt mehr darüber sagen.«
»Mach ich.«
Gegen Ende des Gesprächs schien sie sich wieder gefangen zu haben, aber ich fühlte mich dermaßen mies, dass ich fast vergessen hätte, wütend auf O’Connor zu sein, weil er mir wichtige Fakten verschwiegen hatte.
Fast.
Ich fragte ihn, ob er mit mir Mittag essen gehen wolle. Wir sagten Geoff, wo wir zu finden wären, und suchten ein kleines Lokal auf, das etwa einen halben Block von der Zeitung entfernt lag. Wir sprachen über die seltsamen und im Prinzip nutzlosen Anrufe, die wir von Leuten bekommen hatten, die lediglich die Belohnung kassieren wollten. Unterdessen aßen wir unsere Sandwiches, und ich wartete, bis wir das hinter uns hatten, ehe ich ihn zur Rede stellte.
Er blieb völlig ungerührt. »Mitch hat sie angelogen. Warum sollte ich dazu verpflichtet sein, seine Lügen zu wiederholen?«
»Tja, vielleicht, weil es trotzdem wichtig ist?«
Er zuckte die Achseln. »Wie das?«
»Herrgott noch mal, O’Connor …«
»Ich habe noch mal mit Wrigley gesprochen. Er hat gesagt, wenn Ihre Freundin wirklich eine Position als Ressortleiterin aufgeben will, um bei den Nachrichten zu arbeiten, so ist das ihre Sache. Aber er bedingt sich dreißig Tage aus, um eine Nachfolgerin für sie zu finden. Und er will es ihr selbst sagen.«
Ich starrte ihn einen Moment lang an. »Sie versuchen, das Thema zu wechseln.«
»Ich versuche mich in Wiedergutmachung.«
Ehe er weitersprechen konnte, kam ein Mann zu uns an den Tisch und sagte zu O’Connor: »Ich habe dich schon überall gesucht.«
Der Mann war ein bisschen älter als ich, braun gebrannt und muskulös - und eigentlich gut aussehend, aber er hatte etwas an sich, was mir auf den ersten Blick unsympathisch war. Er trug ein enges T-Shirt, Bluejeans und Arbeitsstiefel und wusste ganz genau, wie gut er in dieser Kluft aussah. Vielleicht überschätzte er sich in dem Punkt aber auch. Verzogener Knilch, dachte ich.
»Irene«, sagte O’Connor, »das ist mein Sohn Kenny.«
»Freut mich«, sagte ich und hielt ihm die Hand hin, die er ansah, aber nicht schüttelte.
Er wandte sich wieder seinem Vater zu. »Also, wegen dem Kredit für das Auto …«
»Das will ich aber nicht hier besprechen«, unterbrach ihn O’Connor und verschränkte die Arme.
Kenny setzte zu einem Protest an, wurde dann aber durch irgendetwas abgelenkt, da er zum Eingang des Lokals schaute. Ich saß mit dem Rücken zur Tür, doch aufgrund des radikalen Wandels seiner Miene drehte ich mich um - gerade rechtzeitig, um die Katastrophe nahen zu sehen.
Voller Bewunderung starrte Kenny eine schlanke, gut aussehende Rothaarige mit großen grünen Augen an. Ich blickte auf meine Schwester und dachte, dass sie schon immer die
Gabe gehabt hatte, sich den beschissensten aller Momente auszusuchen.
Ich stellte sie den Männern vor. Kenny entdeckte auf einmal seine Manieren wieder und schüttelte ihr die Hand, wobei er sie ein bisschen länger festhielt, als es die Höflichkeit erforderte. Was Barbara betraf, so hegte ich den massiven Verdacht, dass sie nicht vorgehabt hatte, so höflich zu mir zu sein, wie sie es nun war. O’Connor und ich wechselten einen Blick.
»Barbara«, sagte ich, »wir müssen jetzt wieder zur Zeitung zurück, aber ich würde gern mit dir sprechen. Begleitest du uns?«
»Ich habe noch nicht zu Mittag gegessen«, erwiderte sie in
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