Totenruhe
einen Mund voll Rauch aus. O’Connor beobachtete, wie er seine Zigarette ausdrückte und die Kippe in dem gläsernen Aschenbecher zermalmte. Zerknirscht lächelte Jack den Jungen an. »Ich werde Lillian wohl bitten müssen, zu Hause zu bleiben. Offenbar ist sie eine zu große Ablenkung.«
»Lillian ist meine Sponsorin?«
Er sprach es völlig korrekt aus. »Ja«, bestätigte Corrigan. »Miss Lillian Vanderveer. Von den Vanderveers, verstehst du?«
»Oh.«
»Dann mal weiter im Text, O’Connor.«
»Ich bin draufgekommen, dass die nervöse Dame zu den Männern geschaut hat, die neben mir gesessen sind. Ein großer und ein kleiner.«
Big Sarah kam vorbei und schenkte Jack Kaffee nach. O’Connor versteckte ein großes Gähnen hinter einer kleinen Hand. Jack zog seine Taschenuhr heraus. »Heiliger Bimbam - es ist schon zehn Uhr, Kleiner«, sagte er, ehe er die Uhr wieder einsteckte. »Ich bring dich nach Hause.«
»Warten Sie! Das Wichtigste habe ich Ihnen noch gar nicht erzählt.«
Jack war gerade im Begriff gewesen, seine Brieftasche zu zücken, ließ sie aber vorerst stecken.
»Ich habe immer wieder zwischen dem kleinen Mann und der Geschworenen hin- und hergeguckt, bis ich gemerkt habe, dass sie das sein könnten, was mein Dad mich und Maureen nennt - zwei Gläser, die aus derselben Flasche eingeschenkt worden sind. Sie sehen sich ähnlich.«
Jack runzelte die Stirn. »So ähnlich wie du und Maureen?«
»Noch mehr. Ich glaube, die beiden sind Geschwister - sie ist bleich und mager, hat gekräuselte rote Haare und Sommersprossen und eine ziemlich spitze Nase. Und er genauso.«
Jack zog sein Notizbuch heraus. »Beschreib mir die Leute mal - den großen Mann, die Geschworene und den kleinen Mann.«
Fünfzehn Minuten später schüttelte er völlig verblüfft den Kopf. Er wusste genau, welche Geschworene der Junge meinte, und war sich ziemlich sicher, welcher von Yeagers Männern oben auf dem Balkon gesessen hatte. Der Junge war ein Naturtalent.
»Ich habe gehen müssen, bevor die Verhandlung vorüber war«, fuhr O’Connor fort. »Aber eines habe ich noch gesehen.«
»Wenn du so weitermachst, Kleiner, muss ich noch den Beruf mit dir tauschen.«
O’Connor schob seinen linken Jackenärmel hoch. Die Jacke hatte früher Dermot gehört. Jack starrte auf seinen Unterarm. »Seine Autonummer«, erklärte O’Connor stolz. »Ich habe gesehen, wie der große Mann mit dem Bruder der Frau das Gerichtsgebäude verlassen hat. Dann sind sie in einen schwarzen, zweitürigen Plymouth gestiegen.«
Jack sah ihn immer noch staunend an.
»Ich hatte kein Papier dabei - oder vielmehr nur meinen Stapel Zeitungen, und die musste ich ja verkaufen. Also habe ich mir die Nummer auf den Arm geschrieben.«
Corrigan fasste hinüber und griff sanft nach der Hand des Jungen. »Und die blauen Flecken? Woher hast du die ganzen blauen Flecken?«
O’Connor versuchte hastig, seine Hand wegzuziehen, doch Corrigan hielt sie fest.
»Das ist nichts.«
Corrigan wartete.
»Von einem Jungen aus der Schule«, murmelte der Junge.
»Größer als du?«
O’Connor nickte.
»Hast du dich gewehrt?«, fragte Corrigan, während er langsam losließ.
O’Connor wand sich ein bisschen, ehe er eine Schulter hochzog. »Ich hab’s versucht. Aber ich kann das nicht richtig.«
»Wo fehlt’s denn bei deinem alten Herrn, dass er dir nicht beigebracht hat, wie man sich wehrt?«
»Ist nicht seine Schuld«, erwiderte O’Connor rasch, wobei er auf den Tisch sah und Corrigans Blick auswich.
O’Connor verschwamm das Tischtuch vor den Augen. Er kniff sie zusammen, doch da merkte er auch schon, wie ihm heiße Tränen übers Gesicht rannen. Wie ein Kleinkind, dachte er. Andauernd benahm er sich wie ein Kleinkind. Und jetzt heulte er auch noch ausgerechnet vor Jack Corrigan.
»Conn«, sagte Jack ruhig. »Conn von den hundertundeins Schlachten.«
»Mein Vater hat einen Unfall gehabt«, sagte der Junge leise und zur Tischplatte hin. »Er ist früher schon mal verletzt worden, hat sogar einen Finger verloren, aber beim letzten Mal - es ist sein Rücken. Er kann nicht mehr gerade stehen. Er kann nicht mal mehr länger als ein oder zwei Minuten stehen, ehe die Schmerzen … na ja, auf jeden Fall kann er nicht mehr arbeiten.« Er zog sein Taschentuch heraus, merkte, dass es immer noch feucht vom Waschbecken war, und steckte es wieder ein.
Nach einer Weile hörte O’Connor Corrigan in sein Notizbuch schreiben und hob den Blick. Ohne aufzusehen, griff Corrigan
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