Totenruhe
geistesabwesend. Tante Mary erging sich in endlosen Kommentaren darüber, was für ein Hamsterer O’Connor gewesen sei. Sie hat noch Zeichnungen, die ich ihr geschenkt habe, als ich in der ersten Klasse war, also gab ich nicht viel darauf. Aber ich fürchtete, dass ich Helen beunruhigt hatte. O’Connor hatte ihr und Jack so nahe gestanden.
Nach O’Connors Tod hatte Max Ducane mir anvertraut, dass Helen schwer deprimiert gewesen war und davon gesprochen hatte, dass sie beinahe jeden Menschen verloren habe, der ihr am Herzen lag. Sie wirkte wie immer unverwüstlich und war bald wieder ganz die alte, aber ich machte mir trotzdem Sorgen.
»Helen?«
Als erwache sie aus einer Trance, sagte sie: »Ja, sag mir Bescheid, was du findest. Aber du brauchst mir nichts zu geben. Wenn ich einen Menschen aussuchen müsste, der O’Connors Schriften, Notizen und andere Schätze haben soll, würde ich dich wählen.«
Ich fühlte mich geschmeichelt, und auf dem Weg zu dem Lagerhaus musste ich an damals denken, als ich O’Connor erzählt hatte, dass es Helens Ratschlag gewesen war, der mich dazu bewogen hatte, weiter mit ihm zusammenzuarbeiten. Da hatte er eingestanden, dass sie ihn genauso massiv bedrängt hatte, nicht an mir zu verzweifeln. Ich schuldete ihr also Dank für eine der wichtigsten Freundschaften meines Lebens.
U-Keep-It Self-Storage war ein typischer Siebzigerjahrebau. Sichtbeton und metallene Rolltore. Ich bremste den Jeep Wrangler ab, den wir erst vor kurzem von unserem Freund Ben Sheridan, einem forensischen Anthropologen, gekauft hatten. Beim Gedanken an ihn überlegte ich, ob er Hailey womöglich bei ihrer Reportage weiterhelfen könnte.
Ein Schild wies darauf hin, dass jeder, der das Gelände betrat, der Videoüberwachung unterlag. Ich gab den Code 4645 ein, woraufhin sich ein Sicherheitstor öffnete und ich auf den Parkplatz fuhr. Ich hatte den Wagen bereits abgestellt und war ausgestiegen, ehe es wieder zurollte. O’Connors Abteil befand sich in der oberen Etage, was mir günstig erschien - und ein bisschen sicherer. Ich stieg die Treppe hinauf. Der breite Korridor war fensterlos und finster, doch offenbar fühlte ein Bewegungsmelder meine Anwesenheit, da mehrere nackte Glühbirnen über mir ansprangen.
Ich fand das Abteil, schob einen kleinen Sackkarren vor der Tür beiseite und steckte den Schlüssel ins Schloss. Das Schloss war ein bisschen störrisch, ging aber auf. Ich klappte den Riegel beiseite und öffnete die Tür.
Vor mir standen etwa vierzig Kisten und Plastikcontainer sowie zwei Metallkisten. Manche Kisten waren beschriftet, andere nicht. Manche sahen relativ neu aus, doch die meisten wirkten alt und trugen Spuren langer Lagerung.
Eine war mir auf den ersten Blick vertraut. In seiner oft falsch gelesenen Krakelschrift stand da der Name seines liebsten Freundes: Jack.
Ich hörte mich selbst schwer ausatmen. Der Anblick der Kiste erinnerte mich an den Tag, an dem ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, als O’Connor mit ihr über ein staubiges Feld gestapft war und sie an sich drückte, als wäre er ein Priester, der das letzte Tabernakel trägt. Dort hatte er mich - eine unerfahrene Reporterin - gefragt, ob er mir bei meiner Geschichte helfen könne. Er hatte so unermüdlich recherchiert, um zu ergründen, was in dieser Nacht im Jahr 1958 wirklich geschehen war. Obwohl inzwischen vieles bekannt geworden war, lag nach wie vor einiges im Dunkeln.
Eric und Ian Yeager waren mittlerweile wieder auf freiem Fuß und lebten angeblich auf einer Karibikinsel, doch hin und wieder erwähnte jemand, dass er sie in der Stadt gesehen habe. Und Mitch Yeager, dieser alte Gauner, würde wahrscheinlich noch den Dritten Weltkrieg überleben. Die einzige Strafe, die ihn ereilt hatte, manifestierte sich in Gestalt seiner drei Kinder, verwöhnten Bälgern, die noch nicht einen Tag ehrliche Arbeit verrichtet hatten.
Ich schüttelte die Gedanken an diese teuflische Familie ab, betrat den Lagerraum, griff nach dem Lichtschalter für dieses Abteil (ein echter Luxus) und stellte erstaunt fest, dass die Birne noch intakt war. Ich rollte die Tür ein bisschen mehr als zur Hälfte herunter. Zwar wollte ich ungestört sein, doch neige ich ein bisschen zu Klaustrophobie - dass ich die Tür überhaupt schließen konnte, betrachtete ich schon als beachtlichen Sieg.
Die alten Metallkisten machten mich neugierig. Eine war braun, die andere grün. Sie standen nebeneinander. Keine von
beiden war abgesperrt, obwohl
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