Totenruhe
Letzte gaben, um es bis Redaktionsschluss zu schaffen.
Zum Glück hatte ich mir den Luxus erworben, an langfristigen Projekten zu arbeiten, daher beeinträchtigte ich den täglichen »Ausstoß« nicht im Geringsten. Es würde keinen weißen Fleck auf der Titelseite geben, weil ich mich in O’Connors erstes Tagebuch vertieft und die Zeit vergessen hatte.
Ich hätte eigentlich ganz entspannt sein können. War ich aber nicht. Irgendetwas lief in der Redaktion ab. Aber was?
Mehr als zwanzig Jahre Zeitungsarbeit hatten mich hellhörig dafür gemacht, wenn irgendeiner meiner Kollegen einem brandaktuellen Stoff auf der Spur war. Jeder Veteran spürte das. Manche altgedienten Reporter konnten zwar ihre Begeisterung über eine heiße Story vor ihren Kollegen verbergen, aber mir war nur selten ein Neuling begegnet, der dazu imstande war. Man hätte auch gleich die Wilhelm-Tell-Ouvertüre über Lautsprecher abspielen können, wenn einen Jungreporter das Jagdfieber gepackt hatte.
Ich sah mich um. Hailey blickte gelangweilt drein. Mark Baker stand am Schreibtisch der Leitung des Lokalressorts und sprach mit Lydia und Ethan.
Ethan. Der war es. Lydia hatte irgendetwas auf ihrem Bildschirm, und Ethan lächelte, während sie mit ihm darüber sprach und Mark sich Notizen machte. Ich stand auf und ging zu ihnen hinüber.
»Mal sehen, was ich rauskriege«, sagte Mark gerade.
»Worüber denn?«
»Oh, hi, Irene«, sagte Mark. »Ich recherchiere für einen Folgeartikel zu Ethans Beitrag für die Titelseite.«
»Ethan hat morgen einen Beitrag auf der Titelseite? Hey, ist ja toll.«
»Danke«, sagte Ethan, sah mir aber nicht in die Augen.
»Worum geht’s denn?«
Es war Lydia, die antwortete. »Er hat Machenschaften an Gräbern auf dem Städtischen Friedhof festgestellt. Dann hat er jemanden von der Parkverwaltung und der staatlichen Friedhofsaufsicht angerufen und gefragt, was man dort dazu zu sagen hat, und am Nachmittag die jeweiligen Untersuchungen der Behörden verfolgt. Anscheinend hat die Stadt einen privaten Subunternehmer engagiert, der für die Organisation der dortigen Beerdigungen bezahlt wird. Die Leute von dieser Firma haben Särge aus unmarkierten Gräbern entfernt, sie über anderen in markierten Gräbern begraben und dann die Grabstellen weiterverkauft, die sie ›geräumt‹ hatten. Außerdem haben sie Wertsachen aus den Särgen entnommen, die sie verlegt haben - und das ist nur das, was heute herausgekommen ist. Es wird Monate dauern, bis man sämtliche Gräber untersucht und festgestellt hat, wer wohin gehört. Tolle Story. Gratulier ihm.«
»Du kleiner Drecksack«, sagte ich stattdessen.
Lydia riss die Augen auf, und Ethan hob das Kinn.
»Was ist denn los?«, fragte Mark.
»Ich kann euch sagen, wer hier der Räuber ist - nämlich er. Er hat die Idee für eine Geschichte gestohlen.«
»Hab ich nicht!«, protestierte Ethan erregt.
»Hailey hat mir heute Morgen genau zu diesem Thema ein paar Fragen gestellt.«
»Irene«, sagte Lydia besänftigend, »vielleicht ist das nur ein Zufall. Außerdem ist Ethan mit dieser Idee zu mir gekommen …«
»Hailey!«, rief ich.
Das gedämpfte Klicken sämtlicher Tastaturen in der Redaktion verstummte. Es war, als wären Grillen gestört worden, die man erst bemerkte, als sie zu zirpen aufhörten.
Hailey kam herübergeschlendert. »Was gibt’s?«
»Hast du mit Ethan über deine Idee für eine Reportage gesprochen, die Sache mit dem Friedhof?«
»Nein«, antwortete sie zögerlich.
»Hast du in seiner Hörweite etwas darüber verlauten lassen? Oder Notizen darüber auf deinem Schreibtisch liegen lassen?«
Sie sah zu Ethan hinüber, der ihren Blick trotzig erwiderte. Ich musterte Mark, der wiederum Ethan und Hailey beobachtete. »Nein«, entgegnete Hailey, »aber Lydia hat sicher Recht. Es ist reiner Zufall. Du bist die Einzige, mit der ich gesprochen habe, und als ich heute Morgen mit dir gesprochen habe, hat sich Ethan gerade mit Lydia unterhalten. Das weiß ich noch, weil …« Sie unterbrach sich und sprach nun offenbar anders weiter als ursprünglich geplant. »Das weiß ich noch, weil er sie zum Lachen gebracht hat.«
»Das stimmt!«, rief Lydia mit sichtlicher Erleichterung. »Ethan hat mir von einer alten Mitbewohnerin erzählt, die jetzt in Sacramento bei der Bee arbeitet.«
»Zufrieden?«, sagte Ethan.
»Mitnichten. Hailey, Ethan ist ganz zufällig auf Fälle gestoßen, in denen auf dem städtischen Friedhof Särge verlegt und geplündert worden
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