Totenruhe
ihre Riegel vorgeschoben waren. Ich ließ zuerst das Schloss der braunen aufschnappen, die mir älter erschien.
Sie war voller brüchiger, vergilbter Blätter, die von einer Kinderhandschrift bedeckt waren. Sachte nahm ich ein paar davon heraus. Jedes Blatt trug einen Titel, der nach Art einer Überschrift in Kapitälchen geschrieben war: »DER MANN, DER AUTOS REPARIERT«, »DAS HAUS, WO MEINE MUTTER ARBEITET«, »ALS MEIN DAD EINEN UNFALL HATTE«, »WIE DERMOT EINEM PFERD HILFT, EIN RENNEN ZU GEWINNEN«, »GLüCKSBRINGER BEI MIR ZU HAUSE«, »WIR ZIEHEN UM«. Jede dieser Geschichten war deutlich mit »von Conn O’Connor« signiert.
Zu den Glücksbringern bei ihm zu Hause zählten ein Hufeisen, das von einem Rennsieger stammte, verschiedene Heiligenmedaillen und andere religiöse Gegenstände, ein Stück Holz »von einem echten Elfenbaum« aus Irland, eine Krähenfeder, »von der Dermot sagt, dass sie überhaupt kein Glück bringt, aber da irrt er sich«, und ein »Dollar von meiner Sponsorin«. Dieses letzte Wort schien sorgfältig aus einem Wörterbuch abgeschrieben worden zu sein.
Ich musste schmunzeln. Als wir uns ein paar Jahre kannten, erzählte mir O’Connor von dem Tag, an dem er Jack Corrigan kennen gelernt hatte, und dass ihm bei dieser Gelegenheit Lillian einen Silberdollar als Trinkgeld gegeben hatte. Ich sah mich um und mutmaßte, dass die Münze in einer dieser Kisten liegen könnte.
Oder auch nicht. O’Connor war ein derart abergläubischer alter Ire gewesen, dass er den Silberdollar wahrscheinlich an seinem Todestag in der Tasche gehabt hatte.
Aus irgendeinem dummen Grund fing ich an zu weinen.
Nach einer Weile riss ich mich zusammen und schaute erneut in die Metallkiste. Nicht weit unten lagen neun Tagebücher.
Das älteste stammte von 1936. Ich schlug es vorsichtig auf und las den ersten Eintrag.
52
»Heute hat mir Maureen dieses Tagebuch geschenkt. Sie ist die beste Schwester der Welt.« Ein Stück weiter unten stand: »Jack würde sagen, das ist hüpperbohlisch, aber das stimmt nicht.«
»Beste« und »nicht« waren dick unterstrichen. Das Wort »hüpperbohlisch« war sorgfältig zu »hyperbolisch« korrigiert worden. Ich setzte mich auf die andere Metallkiste und las weiter. Immer wieder stieß ich auf Korrekturen. Es erstaunte mich, dass ein Junge in diesem Alter so gut schrieb und sich noch dazu die Zeit genommen hatte, seine Fehler zu verbessern.
»Jack hat mir heute wieder eine Stunde Boxunterricht gegeben.«
»Dad hatte heute einen schlechten Tag. Ich habe versucht, keinen Lärm zu machen.«
»Jack hat die Geschichte über das Pferd gefallen, aber er will trotzdem, dass ich sie neu schreibe.«
»Jack hat gesagt, es heißt überarbeiten, nicht neu schreiben. Er hat gesagt, mein Tagebuch ist für mich, und ich soll es ihm nicht wieder zeigen. Hat gemeint, ich könnte in meinem Tagebuch wie wild auf ihn schimpfen - hier drin einfach alles sagen.«
»Miss Swan hat mir heute wieder einen Schrecken eingejagt. Hat mich gefragt, ob ich Jacks Artikel schreibe. Habe ihr gesagt, dass ich noch ein Kind bin.«
Darüber musste ich laut lachen.
»Ich glaube, Jack mag Lily immer noch. Sie ist wütend auf ihn.«
»Guter Tag heute. Jack hat mich mit in die Redaktion genommen.
Habe Mr. Wrigley kennen gelernt. Er ist uralt. Jack hat ihm gesagt, dass ich später mal Reporter beim Express werden will. Mr. Wrigley hat nicht nein gesagt.«
»Jack und Miss Swan gehen heute Abend zusammen essen. Jack sagt Swanie zu ihr. Er ist mutig.«
Kaum ein Tag verstrich ohne eine Erwähnung Jack Corrigans. Helen hatte mir bereits gesagt, dass sie sich nahe gestanden hatten, genau wie O’Connor selbst, der jede Menge Geschichten über Jack zu erzählen wusste. Doch als ich nun diese täglichen Dokumente von O’Connors kindlicher Verehrung vor mir sah, wurde mir erst richtig bewusst, wie eng ihre Beziehung gewesen war. Jack hatte ihn offenbar wie einen jüngeren Bruder behandelt, manchmal auch fast wie einen Sohn. Er musste ihn von Anfang an unter seine Fittiche genommen und unendliche Geduld bewiesen haben.
Oder auch nicht, dachte ich - offenbar war O’Connor bereits mit acht Jahren ein amüsanter Zeitgenosse gewesen.
Beim Weiterlesen begriff ich, dass Helen ihn ebenso empfunden hatte, Lillian jedoch schlecht auf ihn zu sprechen gewesen war. Wahrscheinlich war ihr nicht bewusst, dass ihre abfälligen Bemerkungen von O’Connor nicht nur gehört, sondern auch pflichtbewusst aufgezeichnet wurden.
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