Totenruhe
Nach und nach entstand so durch die aufmerksamen, wenn auch noch nicht alles erfassenden Augen eines Achtjährigen das Bild einer jungen, eigensinnigen Frau aus reichem Hause, die sich ein Häppchen Rebellion gönnte, indem sie mit Corrigan ausging. Das von Thelma Ducane entworfene Bild war noch weniger schmeichelhaft. Corrigan schien jedoch von Lillians Szenen oder Drohungen ungerührt geblieben zu sein, und schon nach einigen wenigen Eintragungen hatte Jack entweder mit ihr Schluss gemacht, oder O’Connor hatte das Interesse an der Berichterstattung über Jacks Liebesleben verloren.
Vermutlich suchte Jack eine Zeit lang die Gesellschaft seiner
Kollegen, denn anschließend folgten Geschichten über andere Reporter, häufig auch über Helen Swan. Ich hatte das Gefühl, dass Jack schon lange bevor er sie geheiratet hatte in sie verliebt gewesen war, was O’Connors junger Verstand nicht begriffen hatte. Vielleicht hatte es ja Jack selbst nicht begriffen.
Vor mir kristallisierte sich das Bild heraus, das ein fasziniertes Kind von den Mitarbeitern zweier Zeitungen gewonnen hatte.
Im selben Sommer hatte O’Connor, der kleine Schnüffler, eines Abends Jack nachspioniert und gesehen, dass er wieder mit Lillian ausgegangen war. »Es ist nicht richtig. Sie ist doch verheiratet.« Der Kleine hätte Klatschkolumnist werden sollen. Ich blätterte um und bereute meinen Gedanken sofort.
Die Seite war voller Tränen. »Jack ist mit seinem Auto schwer verunglückt«, stand da. »Muss vielleicht sterben. Bitte, lieber Gott, hilf ihm. Ich will auch brav sein.«
Im nächsten Eintrag dankte er Gott, »obwohl ich nicht so brav war«. O’Connor hatte es geschafft, sich ins Krankenhaus zu schleichen und Jack zu besuchen, offenbar indem er einen netten Hausmeister und eine mitfühlende alte Nonne bezirzt hatte. Das ging ein paar Tage so weiter. Die Einträge klangen besorgt: »Jack hat sich den Knöchel gebrochen. Der Doktor kann ihn nicht richten.« »Jack ist traurig. Ich kann ihm nicht helfen.« Dann, eines Tages: »Miss Swan ist ihn besuchen gekommen.« Ein Bericht darüber, was sie zu Jack gesagt hatte, machte mir klar, dass sie damals schon genauso tough gewesen war wie heute. Doch der Eintrag endete mit: »Jack mag sie. Ich glaube, er wird wieder gesund.«
Er notierte wenig später ein Datum, als Helen die News verlassen hatte. Davon hatte ich nichts gewusst. O’Connor schrieb: »Jack vermisst sie, glaube ich. Er spricht viel von ihr.«
Irgendwann war das Licht im Korridor erloschen, doch plötzlich ging es wieder an. Ich wartete, hörte Schritte am anderen Ende und dann das Geräusch eines Rolltors, das an einem
anderen Abteil hoch- und wieder hinuntergeschoben wurde.
Obwohl ich keinen triftigen Grund dafür nennen konnte, wurde mir mulmig.
Ich sah auf die Uhr und hätte beinahe geflucht. Den Nachmittag hatte ich nun komplett vertrödelt. Lydia dachte wahrscheinlich, ich hätte bei einem anderen Blatt angefangen. Angerufen hatte sie allerdings nicht. Ich holte mein Handy heraus, um zu sehen, ob ich einen Anruf überhört hatte. Kein Netz.
Woher sollte ich jetzt wissen, ob Lydia versucht hatte, mich zu erreichen oder nicht?
Ich beschloss, den Inhalt der zwei Metallkisten in aller Ruhe bei mir zu Hause durchzusehen. Immer noch beunruhigt wegen des anderen Besuchers auf derselben Etage, schlich ich auf das Rolltor von O’Connors Abteil zu, schob es leise etwas höher und spähte den Korridor in beiden Richtungen entlang, ehe ich den Sackkarren hereinzog. Ich hievte die beiden Kisten darauf, schob ihn hinaus und wollte das Abteil schon absperren, wandte mich jedoch noch einmal um und schnappte mir die Schachtel mit der Aufschrift »Jack«, ehe ich das Tor herunterließ.
Der Aufzug lag am anderen Ende des Flurs. Ich schob den Karren an dem gerade benutzten Abteil vorbei und blieb kurz stehen, um zu lauschen, doch die Person darin machte keinerlei Geräusch. Ich sah zu, dass ich schnell hinauskam.
Ich war nicht weit weg von zu Hause, und der Parkplatz des Wrigley-Gebäudes ist alles andere als sicher, daher fuhr ich kurz zu unserem Haus, stellte Kisten und Schachtel ins Gästezimmer und machte die Tür zu, damit unsere neugierigen Haustiere nicht darin herumschnüffelten.
In der Redaktion hatte ich ungefähr zehn Anrufe auf meiner Voice-Mail, allerdings nichts, worum ich mich sofort hätte
kümmern müssen. Um mich herum klickten leise die Computertastaturen - Reporter, die verbissen ihrer Arbeit nachgingen und das
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