Totenruhe
egal, was die Cops sagen.«
»Das weiß ich, und das weißt du. Aber wenn du erst einmal genug von denen hier gelesen hast, wirst du verstehen, warum Kriminalbeamte skeptische Leute sind.«
Er las sie alle und musste zugeben, dass es in vielen Fällen so war, wie Jack gesagt hatte. Doch er fand zwei andere Artikel, in denen junge Frauen in Maureens Alter ebenfalls im April verschwunden waren, wenn auch in anderen Jahren - junge Frauen, die anscheinend keinerlei Veranlassung gehabt hatten, sich aus dem Staub zu machen. Noch weniger, so gestand er sich selbst ein, als es bei Maureen der Fall gewesen war. Anna Mezire. Lois Arlington. Beide zwanzig Jahre alt. Die Übereinstimmung war zu auffällig, um sie zu ignorieren.
»Ich will mit ihren Familien reden«, erklärte er Jack.
»Gut, aber vergiss nicht - für den Express sind sie alle beide Schnee von gestern. Unternimm nichts in der Sache während deiner Arbeitszeit.«
Die Mütter der Vermissten waren zwar zuerst misstrauisch, wurden aber offener, als sie hörten, dass seine Schwester ebenfalls verschwunden war. Er sprach mit jeder einzeln und erfuhr, dass sie nichts über andere Fälle wussten. Anna war am 30. April 1943 verschwunden, Lois am 18. April 1941. Keine der beiden Mütter wusste mehr über das Verschwinden ihrer Tochter, als er der Zeitung entnommen hatte. Er notierte sich die Namen von ein paar Bekannten der Mädchen, musste jedoch feststellen, dass die, die noch in der Gegend wohnten, ihm wenig zu sagen hatten. »Ich denke oft an sie«, sagte eine von Annas Freundinnen. »Ich glaube, ich werde jedes Jahr im April traurig sein. Mein Bruder ist Polizist, und er hat gesagt, dass Anna wahrscheinlich tot ist und ich das als Tatsache akzeptieren soll. Aber das kann ich nicht, wissen Sie? Es wäre einfacher - ich sage das wirklich nicht gern, aber es wäre einfacher, wenn ich wüsste, dass sie tot ist.«
O’Connor hatte Mühe, seine Gefühle zu verbergen, während sie sprach, um sie nicht spüren zu lassen, wie wütend ihre Worte ihn machten. Er würde die Hoffnung nie aufgeben, dachte er, als er mit der Straßenbahn zur Zeitung zurückfuhr. Er würde nie erfahren wollen, dass Maureen tot war.
Doch es waren noch nicht viele Monate verstrichen, da merkte er bereits, dass alles besser war als dieses Nichtwissen - alles. Er malte sich derart viele Horrorszenarien darüber aus, was ihr zugestoßen sein könnte, dass die Vorstellung, sie ein für alle Mal erlöst zu wissen, bei weitem nicht zu den schlimmsten zählte. Bitte lass sie nicht leiden wurde sein Morgen- und Abendgebet, sein stilles Flehen den ganzen Tag über.
Eines Nachmittags bekam er mit, dass Jack - der offenbar in jeder Behörde und an jeder Straßenecke von Las Piernas einen »Kumpel« hatte - jedes Mal von einem Mitarbeiter des Coroners
angerufen wurde, wenn eine unbekannte Tote eingeliefert wurde. O’Connor bestand darauf, ihn zu begleiten, als er sich die nächste Leiche ansah.
»Bist du sicher, dass du das willst?«, fragte Jack. »Es ist nicht direkt - nun, es sieht nicht so aus wie bei Dornröschen, wenn du weißt, was ich meine.«
»Warum gehst du dann hin?«
»Was glaubst du wohl, warum ich hingehe, Kleiner?«
O’Connor schwieg einen Moment, ehe er sagte: »Danke. Aber von jetzt an begleite ich dich, falls du nichts dagegen hast.«
»Überhaupt nichts.«
Beim ersten Mal wurde O’Connor schlecht, aber Jack nahm ihn beim nächsten Mal trotzdem wieder mit.
Fünf Jahre lang wiederholten sich diese Fahrten.
Jeden trostlosen April hielt O’Connor Ausschau nach Berichten über vermisste Frauen, die in das Schema passen könnten, doch es kamen keine.
Im April 1949 spielte in San Marino - etwa dreißig Meilen nördlich von Las Piernas - ein dreijähriges Mädchen in einem von Unkraut überwucherten Feld. Dabei fiel es in einen aufgelassenen Brunnen - dreißig Meter tief, durch eine fünfunddreißig Zentimeter breite Öffnung. Ihre Eltern hörten sie schreien und riefen Polizei und Feuerwehr. Die Rettungsaktion sprach sich herum, und der Leiter der Lokalredaktion des Express sah von den telegrafischen Meldungen auf und überlegte, wen er zur Berichterstattung dorthin beordern könnte. In der ganzen Nachrichtenredaktion gab es nur einen abkömmlichen Reporter: den jungen O’Connor. Der Redaktionsleiter schickte ihn nach San Marino.
Es herrschte bereits reges Treiben, als O’Connor am Schauplatz eintraf. Schweres Gerät, Rettungsleute, Freiwillige, Nachbarn - selbst zierliche
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