Totenruhe
er vor Kälte zitterte und sich fragte, warum ihm ausgerechnet jetzt keine zündende Idee kam. Ohne eine geeignete Stelle, die ihm Deckung bot, würde er nicht näher herangehen, denn Ronden könnte ohne weiteres den Lauf eines Gewehrs durch das zerfetzte Fliegengitter stecken und sofort ohne jede Vorwarnung auf ihn schießen.
Auf einmal flog die Fliegentür an den Scharnieren nach hinten, und ein Schwarzbär kam aus der Hütte. Er blieb stehen, schnüffelte und schaute zu O’Connor hinüber, ehe er nach links davontrottete - wesentlich schneller, als O’Connor es sich bei einem so großen Tier hätte träumen lassen.
Als sich sein Herzschlag so weit beruhigt hatte, dass er keine Dankgebete für seinen glimpflich verlaufenen Beinahe-Zusammenstoß mit potenziell gefährlichen wilden Tieren mehr vor sich hin murmeln musste, ging er auf das Blockhaus zu. Er konnte sich alles Mögliche über Gus Ronden ausmalen, aber nicht, dass er sich nebenbei als Bärendompteur betätigte.
Er trat auf die Veranda, zog die - vermutlich infolge eines Anklopfversuchs des Bären - kaputte Fliegentür auf und schaute von der Türschwelle aus ins Innere des Blockhauses. Vor ihm breitete sich Chaos aus. Der Bär hatte sich offenbar im größten Raum der Hütte, der Küche, Essplatz und Wohnzimmer umfasste, bärig amüsiert. Die Küche war komplett verwüstet - der Kühlschrank stand offen, und sein magerer Inhalt war über den Boden verteilt worden. Mehrere Teile eines Plastikgeschirrs hatten den Sturz aus einem Regal überlebt, aber ein Kupferbehälter mit Zucker war zu einer unbrauchbaren Form verbogen. Der Boden neben der Tür war feucht, und es hatte den Anschein, als sei es in der Hütte kälter als draußen.
O’Connor sah in die anderen Räume und fand sie unbewohnt. Das Bett war gemacht, der Wandschrank leer, das Badezimmer sauber. Er kehrte ins große Zimmer zurück und blickte sich noch einmal um. Abgesehen von der offenen Tür und der Sauerei, die der Bär veranstaltet hatte, fand er keinen Hinweis darauf, dass in letzter Zeit jemand hier gewesen war. Im Kamin lag Asche, aber es war unmöglich zu sagen, von wann sie stammte.
Nun wurde ihm auch bewusst, dass er keine Fußspuren gesehen hatte. Wenn Ronden am frühen Sonntagmorgen hier heraufgefahren war, wäre der erste Schnee bereits vor seiner Ankunft gefallen. Er hatte Ketten an den Reifen, also hatte Schnee gelegen, zumindest in den höheren Lagen. Wenn er vom Auto aus zu Fuß zum Blockhaus gegangen war, hätte der Neuschnee seine Spuren überdeckt. Doch das war nun fast
eine Woche her, und nirgends fand sich ein Hinweis darauf, dass er sich hier aufhielt. O’Connor wusste nicht genau, ob Bären Türen aufmachen konnten, noch dazu abgeschlossene. Erneut musterte er die Holztür. Im Gegensatz zur Fliegentür war sie unversehrt.
Warum war die Tür unversperrt gewesen? Er hörte ein Auto und blickte zur Straße. Zwar konnte er die Fahrbahn von hier aus nicht richtig sehen, aber bei der offenen Fliegentür hörte er jedes vorbeifahrende Auto. Hatte jemand anders hier auf Ronden gewartet? Vielleicht waren sie dann gemeinsam irgendwohin gefahren. Aber warum dann die Tür offen lassen? Vielleicht hatte ja der - oder die - andere die Tür nicht richtig zugezogen, und der Wind hatte ein Übriges getan.
Er kehrte zu den Autos zurück, stieg in seinen Nash, ließ ihn an und drehte die Heizung auf.
Wo mochte Ronden sein? War er aus freien Stücken verschwunden, oder lag er irgendwo tot im Wald, vom Schnee begraben? O’Connor fragte sich, ob er auf dem Weg die Einfahrt hinab womöglich fast auf ihn getreten wäre.
Er fröstelte. Während er versuchte, wieder warm zu werden, starrte er durch die Windschutzscheibe auf den Imperial. Die ausladenden, schnittigen Heckflossen und das auffällige Karosseriedesign mit den erhabenen Umrissen des Reserverads verliehen dem Imperial ein futuristisches Aussehen, das der Nash nie haben würde.
O’Connor überlegte, ob er sich umziehen sollte, ehe er nach Lake Arrowhead zurückfuhr. Dort würde er sich ein Münztelefon suchen und Norton anrufen. Der Gedanke an trockene Sachen war verführerisch, die Vorstellung, aus dem Wagen zu steigen und seine Reisetasche aus dem Kofferraum zu holen …
Der Kofferraum. Wenn Rondens Gepäck im Kofferraum des Imperial lag, dann hatte er nicht vorgehabt, das Blockhaus zu verlasssen, und war vermutlich tot. Falls nicht, waren die Aussichten, ihn zu finden, gering.
O’Connor streifte erneut die Handschuhe
Weitere Kostenlose Bücher