Totenschleuse
der Anonymität untertauchen. So gut das auf Sylt in einem Hotel möglich war. Die nächste Regionalbahn zum Festland fuhr erst morgen früh.
Er war ab sofort ein Geschäftsreisender. Mit Pflaster auf der Nase? Er zog es wieder ab und vermischte Wundheilsalbe aus der Bordapotheke mit Vollkornmehl aus der Bordküche und tupfte die Mischung mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Kratzer. Er besah sich im Spiegel. Ein bisschen Strandsand auf der Nase dürfte auf Sylt nicht ungewöhnlich sein. So sah es jedenfalls aus. Der Schmerz ließ nach. Wahrscheinlich war die Mischung ein echter Geheimtipp.
Er parkte sein Wohnmobil in der Nähe des Westerländer Bahnhofs. Er packte seine Reisetasche mit dem Wichtigsten für eine Übernachtung, unter anderem mit zwei gestern gebratenen Hähnchenkeulen.
Der junge Mann an der Rezeption sah nicht auf Malbeks Nase, sondern auf dessen Kreditkarte. Die Chipkarte für das Zimmerschloss war wie immer ohne Zimmernummer und steckte in einem Plastiketui, auf dem die Zimmernummer aufgedruckt war. Dreihundertvierzehn. Das bedeutete zweiter Stock.
Im Zimmer zog er die Vorhänge zu, legte sich auf das Bett und rief mit einer neuen SIM-Karte Lüthje an.
Der lag auf dem Bett in seinem Mansardenzimmer bei Rita und las ein Buch seines Lieblingsautors Dostojewski in einer neuen Übersetzung. »Verbrechen und Strafe« hieß der Roman jetzt statt »Schuld und Sühne«.
»Wo ist der Unterschied?«, fragte Malbek.
»Man muss nicht ein Verbrechen begehen, um schuldig zu werden. Dir als Pastorensohn müsste das doch klar sein«, sagte Lüthje.
»Du kaust.«
»Na und?«, sagte Lüthje.
»Du liest und isst? Das ist ungesund!«
»Aber schön. Du weißt doch. Hilly hat mir Trennkost verordnet. Das halte ich nicht aus. Ich hab mir in einem unbeobachteten Moment am Büfett ein Brötchen mit geräucherten Forellenfilets eingesteckt. Ist etwas zerquetscht, aber immer noch köstlich«, sagte Lüthje.
»Haben die Damen das nicht gerochen?«
»Ist Meerrettich dran. Das neutralisiert den Geruch. Außerdem hatte ich es in eine Serviette eingewickelt in der Jackentasche, neben den Knäckebrotkrümeln.«
Malbek hatte auch Hunger bekommen, und während er die Hähnchenkeulen auspackte, erzählte er Lüthje von Reginas Fingernägeln.
»Ich hab dir das so ausführlich geschildert, damit ich dich als Zeugen benennen kann. Falls sie mich anzeigt, wegen einer versuchten Vergewaltigung. Ich trau der alles zu.« Malbek breitete auf dem Fensterbrett ein Handtuch als Tischdecke aus.
Lüthje lachte. »Du und die Frauen. Okay, ich mach mir einen schriftlichen Vermerk, und das solltest du auch machen. Lade sie zur Befragung nach Kiel. Nie allein mit ihr in einem Raum, hast du gehört, Junge?«
»Ja, Papa. Was hat die Witwe Manuela dir in ihrer Mansarde bei schummerigem Licht erzählt?«
Lüthje schilderte ihm Manuela Bönigs Befragung und fasste schließlich alles in zwei Sätzen zusammen. »Sie ist also um zweiundzwanzig Uhr dreißig zu Hause angekommen, die Haustür stand offen, ihr Mann lag am Fuße der Treppe zum Weinkeller neben einer Schneiderpuppe, die aus ihrer Boutique stammte. Danach ist sie unter Schock zur Vernissage gefahren, zu der sie und ihr Mann eine Einladung hatten, und hat den Anwesenden die Neuigkeit verkündet …«
»… und Axel Molsen hat sich beherzt der verstörten Inselnachbarin angenommen …«, fuhr Malbek fort, »… sie zum Leichenfundort gefahren, sie allein in dieses Haus gehen lassen, damit sie ihr Köfferchen packen kann, und wie es sich für einen richtigen Prinzen gehört, ist er mit ihr auf dem weißen Schimmel in sein sicheres Schloss geritten. Ganz unwahrscheinlich ist das Märchen nicht. Du weißt, die Wege des Herrn sind unergründlich.«
»Und all das hat natürlich nicht das Geringste mit dem Mord an dem jungen Seemann Markus Peters zu tun. Amen«, sagte Lüthje. »Falls es dich interessiert, Bönigs Haus ist versiegelt und bewacht, die Spurensicherung wird morgen anrücken, und Dr. Brotmann wartet in der Gerichtsmedizin schon interessiert auf den angeblichen Genickbruch. Ich habe kurz mit ihm telefoniert, und er hat mir einen kleinen Vortrag dazu gehalten.«
»Vehrs ermittelt gerade im beruflichen Umfeld Molsens«, sagte Malbek. »Dann kann er doch gleich den verstorbenen Fondsmanager Frank Bönig mit einbeziehen.«
»Wir müssen den Ball flach halten, Malbek. Sonst drücken die uns in eine gemeinsame Ermittlungsgruppe oder sogar Sonderkommission, weil das
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