Totenschleuse
gesagt, dass Frank Feinde hatte.«
»Wir haben die Tatwaffe im Fall Markus Peters bisher nicht gefunden. Haben Sie sie vielleicht inzwischen gefunden?«
Sie legte den Kopf etwas schief und sah auf ihre Hände. »Sehen meine Hände so aus?«
Unten vom Flur hörte man Molsen und Rita gedämpft sprechen. Malbek glaubte, in ihrer Stimme einen gurrenden Unterton zu hören. Molsens Stimme erkannte er fast nicht wieder. Jungenhafte Übermütigkeit. Fröhliche Schwatzhaftigkeit. Aufbruchstimmung. Die Haustür schlug abrupt zu.
»Ich kann es Ihren Händen nicht ansehen, deshalb frage ich Sie«, sagte Malbek in die plötzliche Stille hinein. Ihre Hände waren sehnig, knochig und schlank. Malbek glaubte nicht, dass man Händen ansehen konnte, was sie getan hatten oder was sie zu tun imstande waren.
»Nein, ich habe keine Tatwaffe gefunden. Sie müssen weitersuchen.« Sie stand auf und sah aus dem Fenster, das zur Straße ging. »Er hat sie eben abgeholt. Dann bringt er sie jetzt auch zurück.« Sie sprach es wie einen Bibelvers.
Sie wandte sich ab und ging nach unten. Malbek griff in seine Jackentasche und klebte eine »Meise« hinter einer Vase an die Wand.
Er klappte das Notebook auf. Ein Coram 5. Sie hatte vergessen, es auszuschalten. Eigene Dateien, unbekannte Namen, wahrscheinlich Kunden. Rechnungen. Tage. Er klickte die Datei »Tage« an, er sah Ordner mit Monatsnamen, Juni, Juli, August, September, klickte »Juli« an, eine Textdatei öffnete sich. Es sah aus wie ein Tagebuch. Er scrollte, ließ die Seiten vorüberfliegen und verweilte kurz an einigen Stellen.
… was um alles in der Welt Dein kleines Leben denn schon ausmacht. Und wieso Du nicht etwas Bleibendes schaffen kannst, warum Du Deine Träume nicht verwirklichst und ob das ein Leben ist. Die Boutique mit Erlesenem, was man nur …
… Du bist nicht, was Du bist …
… Die kleinen organisierten Ablenkungsmanöver, wie der Eintritt in den Strandverein …
… Heute Morgen hast Du die ersten Austrocknungserscheinungen gesehen. Plötzlich in tiefster emotionaler Dunkelheit der Depression vor dem Spiegel …
… Es ist das Vermissen einer inneren geistigen, emotionalen und rationalen (R)Einheit, ein Ganzsein für den Augenblick und die neugierige Erwartung des Kommenden. Vielleicht kriegen Menschen deshalb Kinder?
Malbek machte die Datei »September« auf.
… Es wird belanglos, ob nun alle zustimmen, wenn Du mit Dir selbst im Reinen bist. Manche Fesseln verlierst Du sozusagen über Nacht, ohne es zu merken. Du wachst morgens auf, und: Weg sind sie.
… Die Büste, den Stock durch den Leib gerammt, nur Körper, ohne Arme und Beine, die Wölbungen hingestreckt, kein Kopf, kein Gesicht.
Das hatte sie also vorigen Monat geschrieben. Danach gab es keine Eintragungen mehr.
Es war ein schöner September. Die milde Wärme streichelte die Blätter an den Bäumen. »Thermische Winde« nannten die Meteorologen diese Erscheinung. Malbek hatte es schon immer als trügerische Verträumtheit der Natur empfunden.
Er überlegte einen Moment, ob er das Notebook beschlagnahmen sollte. Aber würde es mehr als unerhebliche Zustandsberichte einer Frauenseele enthalten? Damit konnte kein Staatsanwalt etwas anfangen. Malbek wollte warten. Er wollte sie weiter, mehr schreiben lassen.
»Herr Malbek? Wo sind Sie?« Ihre Stimme überschlug sich. Er hörte sie die Treppe heraufkommen.
Er konnte noch rechtzeitig die Dateien schließen und ihr zum Treppenabsatz entgegenlaufen.
»Ich wurde angerufen, Frau Bönig. Ich komme schon. Na, wie ist das Gemälde gehängt?«
Sie sah ihn einen Moment misstrauisch an, war dann aber von seinem Eifer mitgerissen und lief voraus ins Strandzimmer. Malbek bückte sich wieder, damit auch der Flur bestückt war.
Es war das Bild »Warten«. Die Pflanzenkübel waren an Seitenwände gerückt worden, um Platz zu schaffen.
»Sehen Sie sich das an! Das erschlägt. Unmöglich. Geschmacklos. Sehen Sie zur Terrasse. Das ist ein Bild. Der Pool, die Dünen, der Himmel. Und hier, ausgerechnet an der gegenüberliegenden Wand, so etwas Nichtssagendes, Verworrenes!« Sie stand fassungslos mitten im Wohnzimmer und starrte auf Rita Lüthjes Gemälde. Malbek bückte sich hinter ihr und klebte zwei »Meisen« an eine Seitenwand in Fußbodenhöhe.
Die untergehende Sonne tauchte das »Warten« in blasses Gelb, das von Manuela Bönigs Schatten durchschnitten wurde.
»Darüber werde ich noch mit ihm reden müssen«,
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