Totenseelen
der Insel. Aber natürlich war das am ersten September mit einem Schlag vorbei.«
Pieplow nickte. Natürlich. Da will man nach Hause, auch wenn man bis zum letzten Augenblick so getan hat, als ginge das Säbelrasseln nur andere was an.
Nichts von dem, was Waltraud Pape berichtet hatte, ergab einen brauchbaren Hinweis. Wahrscheinlich könnte er bis Sonnenuntergang hier sitzen, ohne etwas Verwertbares zu erfahren. Bevor er aufbrach, ließ er dennoch auftragsgemäß die Frage nach den besonderen Vorkommnissen vom Stapel. »Gab es Gerede, Gerüchte, Ungereimtheiten? Irgendetwas, das sich im Rückblick mit dem Toten in Verbindung bringen ließe?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Waltraud Pape schüttelte den Kopf. »Gerede und Gerüchte, mein Gott, die gibt’s doch immer. Geldgeschichten oder wer mit wem und solche Sachen. Aber wenn Sommertechtelmechtel ein Grund für Mord und Totschlag wären, dann hätte es mehr als einen verbuddelten Toten geben müssen. Und Ungereimtheiten? Was soll ich mir denn darunter vorstellen?«
»Ich weiß es auch nicht«, sagte Pieplow und hob ratlos die Hände. »Eben Sachen, auf die sich niemand einen Reim machen konnte.« Er erhob sich, weil er sah, wie sie die Unterlippe skeptisch vorschob und bedauernd den Kopf hin und her wiegte.
»Ich glaube nicht, dass es so was gab. Andererseits ist es wirklich schon lange her, und man müsste …« Sie stockte mitten im Satz, hob den Blick zu Pieplow, der vor ihr stand, die Hand schon zur Verabschiedung ausgestreckt. »Da war was. Aber ich würde nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass es in dem Jahr passiert ist.«
»Und das wäre?« Er setzte sich wieder.
Sie beachtete die Frage nicht. Ihr Blick ging durch ihn hindurch, während sie sich in ihrer Erinnerung vortastete: »Doch, ja, das war 1939. Oder? Es könnte auch … Nein, das muss in diesem Frühjahr gewesen sein, kurz vor meinem … oder? Ach, herrje, man hätte seine Tagebücher aufheben sollen. Ein gutaussehender Mann, wirklich. Groß, schlank. Klavierspielerhände. Fast vornehm könnte man sagen. Ich hab ein paar Mal mit ihm getanzt, müssen Sie wissen.« Sie lächelte kokett und fast ein wenig wehmütig.
Pieplow wusste gar nichts. Erst recht nichts, was beim Sortieren von Jugenderinnerungen hochbetagter Damen hilfreich hätte sein können. Aber sie kam auch ohne seine Unterstützung auf dem Meer ihrer Erinnerungen wieder flott: »Es muss 1939 gewesen sein, denn im Jahr davor … Egal. Auf jeden Fall verschwand der Herr Ingenieur in diesem Frühjahr. Das gab natürlich Gerede. Wieso, warum, wohin? Erst war er hier jahrelang enorm wichtig herumgelaufen mit seinen Plänen und Papieren und plötzlich …«
Ihre Hand machte eine Aufwärtsbewegung. »Auf und davon. Aber mit dem Toten unterm Schlesinger-Haus kann das nichts zu tun haben.«
»Und wieso nicht?«
»Ach, eigentlich war das eine tragische Geschichte. Er war mit einem Mädchen aus Vitte verlobt, dieser Ingenieur, das ein paar Monate vor der Hochzeit gestorben ist. Rolf oder Rudolf oder so ähnlich hieß er. Mir will der Name nicht einfallen. Gut möglich, dass ihn das aus der Bahn geworfen und auf dumme Gedanken gebracht hat. Jedenfalls war er eines Tages weg und mit ihm zweitausend Mark aus der Reichskasse.«
»So viel Geld?« Pieplow zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
»Das will ich meinen! Geld für Materiallieferungen und für die Löhne der Arbeiter. Außerdem ist er auch noch seine Quartierkosten schuldig geblieben. Er hat sein Zimmer leer geräumt, sein Bett gemacht und sich noch vor dem Frühstück verdünnisiert. So hat Hertha es erzählt. Hertha Möhle, drei Häuser weiter oben.« Waltraud Pape wies Richtung Hochland. »Für die war das ein ziemlicher Schlag ins Kontor, das können Sie mir glauben.«
Pieplow schrieb mit, so schnell er konnte.
Als sie sah, dass er sich die Namen notierte, fügte sie hinzu: »Fragen können Sie Hertha nicht mehr. Sie ist schon seit ein paar Jahren tot.«
Auch das vermerkte er gewissenhaft, ebenso wie den Namen des Ingenieurs, der Waltraud Pape erst einfiel, als Pieplow sich zum zweiten Mal verabschieden wollte. Dietrich. Dietrich Roloff, Ingenieur beim Bauamt Stralsund. Wenigstens ein Ergebnis als Tätigkeitsnachweis im Protokoll über einen halben Septembernachmittag, auch wenn es sich womöglich als blinde Spur herausstellen sollte.
Dass Professor Dahlke pünktlich um halb vier durch die Papesche Gartenpforte trat, gehörte dagegen wohl nicht ins Protokoll. Auch nicht,
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