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Totenseelen

Totenseelen

Titel: Totenseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lautenbach
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entschuldigen würden, wir wollen doch nicht, dass etwas Wichtiges übersehen wird.«
    Und dafür war ohne Zweifel der Professor zuständig. Er dirigierte den Fotografen in immer neue Positionen, wies ihn an, zwischen Fotoapparat und Videokamera zu wechseln, und ging auf die Knie, um an besonders kniffligen Stellen selbst Hand anzulegen. »Haben Sie nichts Besseres zu tun, als hier herumzustehen?« Böhm hielt sich dafür, dass er nur eine Nebenrolle spielte, an Pieplow schadlos.
    »Ich suche nach möglichen Zeugen. Bisher hat sich …«
    »Bisher haben Sie außer belanglosem Kram wenig gebracht. Vielleicht besinnen Sie sich mal darauf, dass Sie hier nicht der Kreisheimatpfleger sind, der nette Geschichten von damals sammelt, sondern dass Sie Vernehmungen in einer polizeilichen Ermittlung durchführen. Also, worauf warten Sie noch?«
    Pieplow hätte auf die Uhrzeit hinweisen können. Kurz nach eins, Mittagsruhe. Nicht für ihn, aber für die Alten. Er verzichtete darauf und ging wortlos zu seinem Streifenwagen.

8
    Manchmal dringt ein Geräusch zu mir ins Zimmer. Geschirrklappern aus der Küche, Kindergetrappel, ein halblauter Ruf.
    Eine wohlige Kulisse für meine Stunde im Sessel. Durch das Fenster kann ich den Garten sehen, die Rosen an der Pforte, ab und zu den Kopf eines Spaziergängers jenseits der Hecke. Ich habe nicht mehr damit gerechnet, dass mir diese friedliche Muße noch einmal genommen wird. Dass ich, anstatt zu dösen, bis Kaffeeduft mich weckt, stocksteif und aufrecht hier sitze, die Finger wie in vergeblichem Gebet ineinander verschlungen, von meinen Gedanken bedrängt. Sie zwingen mich in die Vergangenheit zurück und beschwören vergessen geglaubte Bilder herauf, die von Tag zu Tag deutlicher werden.
    Von Clara, wie sie am Hafen auf uns wartete, die Sprenge auf und ab schlenderte und Kunden grüßte, die Zeitungen und Filme bei ihr kauften.
    Von Lissi, die immer als Letzte kam. Die karamellblonden Locken aus Band oder Spange herausgerutscht, in einem Laufschritt, der auch abends noch etwas Übermütiges, Unbeschwertes hatte, obwohl sie schwer arbeiten musste. Wasser schleppen und Böden schrubben. Auf Knien, mit Scheuersand und Bürste. Rock und Schürze klebten ihr schon nässeschwer an den Beinen, wenn sie Kartoffeln schälte und Gemüse putzte, bevor mittags der Abwasch begann. Trotzdem war sie die Fröhlichste von uns. Sie lachte gern und knickste artig, wenn sie Gästen begegnete, auch wenn kaum jemand sie zu erkennen schien. Von dem Mädchen, das die Drecksarbeit machte, nahm niemand Notiz, im Hotel nicht und erst recht nicht abends beim Promenieren. Und doch wirkte Lissi immer unbekümmert, voller Energie und Zuversicht. Ganz anders als Clara, die Schweigsame, die oft nur lächelte, wenn Lissi und ich schwatzten oder laut losprusteten.
    Trotzdem war Clara nicht die Außenseiterin, die es in Dreiergespannen meist gibt. Das war eher ich, die Unscheinbare, die Tag für Tag in ihrer Stube über Laken und Tüchern und Schürzen saß. Weißnäherin. Heute weiß kaum noch jemand, dass es diesen Beruf überhaupt gab. Zu mir hat er gepasst. Ich war kein Mädchen, das man herzeigen konnte. Kein immer fröhlicher Kobold wie Lissi und gewiss nicht schön und empfindsam wie Clara. Aber ich gehörte dazu, und das genügte.
    So oft es ging, und das wird seltener gewesen sein, als meine Erinnerung mir vorgaukeln will, waren wir am Hafen. Sein Rhythmus bestimmte unseren Alltag. Das Aus- und Einlaufen der Boote. Ankunft und Abfahrt der Dampfer. Auf irgendwas wurde dort immer gewartet. Auf die Männer und ihren nächtlichen Fang. Auf das Postboot. Auf das Abendschiff aus Stralsund, mit neuen Gästen und ganzen Bergen von Koffern, in denen die Damen aus der Stadt die neueste Mode auf die Insel brachten. Dann wurde das Bollwerk zur Bühne. Willkommen und Abschied. Wir gaben die Statisten und stupsten uns manchmal an, wenn ein verrückter Hut oder ein gewagtes Kleid auftauchte. Nur die Männer hatten nichts mit dem ganzen Theater im Sinn. Sie hatten ihre Boote klarzumachen und ihre Netze in Schuss zu halten und keinen Blick für das Gedöns.
    Aber als an einem diesigen Herbsttag Friedrich zurückkam, ließen sie Reusen und Netze liegen, um ihn gebührend zu empfangen. Sie umringten ihn, schlugen ihm auf die breit gewordenen Schultern. »Und?«, fragten sie oder »Na, zurück?«. Sie grummelten kurze Begrüßungssätze, kramten ihre Pfeifen aus den Taschen hervor und warteten darauf, dass er ihnen das Wichtigste

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