Totenseelen
etwa, mögliche Kleidungsstücke oder Gegenstände, die der Tote bei sich gehabt hatte.
Vier Männer knieten in Schutzanzügen am Rand der flachen Grube, zwei rechts, zwei links, vom Professor mit Argusaugen beobachtet. Das Werkzeug, mit dem sie sich Krume für Krume vorarbeiteten, wirkte fast kindisch. Kleine Schäufelchen, Spachtel, schmale Maurerkellen, Pinsel in allen Größen: säuberlich aufgereiht wie Operationsbesteck.
Gebannt starrte Pieplow auf das, was sich im dunklen Boden abzuzeichnen begann. Keine Spur mehr von den Zweifeln, die ihn hatten schwanken lassen. Auch kein Gedanke mehr an das fruchtlose Klinkenputzen, mit dem er den Vormittag verbracht hatte, bevor ihn die Neugier in die Gasse am Mühlberg gezogen hatte.
In vier Häusern war er gewesen. Hatte seine Fragen vorgebracht, nachgehakt, Gedächtnishilfen gegeben. Das Foto der Schlesingers hervorgezogen und Zeit gelassen, es zu betrachten. Nirgendwo hatte er etwas erfahren, was er nicht schon wusste. Auch nicht den Namen des Mädchens außen rechts auf dem Bild.
»Du meine Güte … ja … wer könnte das sein?« – »War nicht … aber nein.« – »’39 sagen Sie? Warten Sie mal … Hier aus Kloster war sie nicht, dann wüsste ich’s. Oder doch? Nee, die muss aus Vitte sein.« – »Wir haben uns nie viel um andere Leute gekümmert, wissen Sie?« – »Tja, wenn meine Frau noch lebte, die könnt Ihnen das jetzt …«
Es war Pieplow nicht leichtgefallen zu sortieren, was die Alten sagten. Nützlich, überflüssig. Wichtig, unwichtig. Zu anderer Zeit, aus anderem Anlass hätte er sie reden lassen. Davon, dass kaum zu glauben sei, wie schnell die Jahre vergingen. Wie jung man einmal gewesen sei. Von der schönen, schlimmen, schweren Zeit und davon, dass man nie wissen konnte, was kam, und es wohl auch besser so sei.
So aber hatte er sich den Gesprächen entzogen, sobald es möglich war, ohne unhöflich zu wirken. Zum Schluss stellte er immer dieselbe Frage. Die nach jemand, der mehr wissen konnte. Vielleicht jemand, der im Dornbusch gearbeitet hatte, der die Schlesingers kannte oder wusste, wer damals zum Personal gehörte.
Zwei Namen hatte er sich notiert, von denen er einen zwar auf seiner Liste fand, der ihm aber ebenso wenig sagte wie die dazugehörige Adresse. Allmählich sank seine Hoffnung, überhaupt etwas herauszubekommen, was Licht in die Sache brachte. Das alles lag ganz einfach zu lange zurück. Wie sollte sich jetzt noch aufklären lassen, wessen Überreste unter den Spachteln und Pinseln dort in der Grube immer deutlicher zum Vorschein kamen? Die scharfkantigen leeren Augenhöhlen, das Nasenbein, kurz und ausgezackt, als sei es abgebissen worden. Aus Ober- und Unterkiefer ragten lang und gelblich die Zähne hervor.
»Wunderbar! Ganz ausgezeichnet!« Als der Brustkorb sichtbar wurde, knetete der Professor seine Hände wie ein Pianist vor einer kühnen Kadenz. »Der Herr ist wirklich gut erhalten. Er wird uns wohl einiges über sich erzählen können. Wunderbar!«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Böhm so schroff, dass Pieplow beinahe den Kopf geschüttelt hätte. Es mochte ein Manko sein, dass er selbst sich für die Rolle des harten Bullen so wenig eignete, aber dass Typen wie Böhm auf Dauer damit Erfolg hatten, konnte er sich ebenso wenig vorstellen.
Der Professor ließ sich nicht aus seiner heiteren Ruhe bringen. »Ich will damit sagen, dass dieser Mann uns das eine oder andere über sich verraten wird. Alter und Größe sowieso. Das Gebiss wird zeigen, ob er sich einen Zahnarzt leisten konnte, und die Reste der Bekleidung, für was er sonst noch Geld hatte. Hemden mit teuren Knöpfen, zum Beispiel. Oder billigen, je nachdem. Gürtelschnalle, Krawattennadel, solche Dinge. Außerdem hätten Sie doch wahrscheinlich gern einen Hinweis auf die Todesursache, nicht wahr?«
Böhm war nicht anzumerken, ob ihn der amüsierte Tonfall des Professors verärgerte. »Wieso sind Sie sicher, dass es ein Mann ist?«, hakte er nach.
»Ich habe mir erlaubt, ein wenig zu puzzeln, mein lieber Böhm. Die Fußknochen, Sie erinnern sich? Aneinandergefügt lassen sie auf Schuhgröße 43/44 schließen. Das scheint mir doch reichlich viel Fuß für eine Frau. Aber natürlich haben Sie Recht, auf einer fundierten Aussage zu bestehen. Da muss ich Sie allerdings vertrösten, bis wir unseren Fund hier nach allen Regeln der Kunst durchleuchtet haben. Wie heißt es doch immer so schön: Alles Weitere nach der Obduktion. Wenn Sie mich jetzt
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