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Totenseelen

Totenseelen

Titel: Totenseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lautenbach
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war, noch entdeckte er irgendwo den großen, gutaussehenden Brillenträger, nach dem er eigentlich suchte.

10
    Es gibt eine Fotografie, die uns drei vor Lissis Elternhaus zeigt. Es stand dort, wo heute die Bettenhäuser des Seeblick verrotten, auf einer baumlosen, struppigen Wiese mit kaum genug Gras für die eine Kuh, die alle paar Stunden umgepflockt wurde. Ein niedriger Zaun umgab das kleine Haus, dem man ansah, dass seit langem das Geld für einen vernünftigen Anstrich fehlte.
    Was für uns Armut war, galt bei den Fremden als malerisch. Auch für den sonderbaren Fotografen, der jedes Jahr im Sommer schräg gegenüber bei Schluck logierte, um dann mit seiner sperrigen Ausrüstung über die Insel zu ziehen und die alleralltäglichsten Dinge zu fotografieren. Steine zum Beispiel, oder Bäume. Wellen. Nie waren Menschen auf seinen Bildern, mit denen er es angeblich zu einiger Berühmtheit gebracht hatte. Ich weiß nicht, warum er ausgerechnet bei uns eine Ausnahme machte. Aber er tat es und schenkte jeder von uns einen Abzug auf festem teegelbem Karton. »Drei Meerjungfrauen« hatte er mit schwarzer Tinte auf die Rückseite geschrieben, darunter die Jahreszahl. »1937«.
    Ein Glücksjahr, dachten wir, in dem nur Gutes passiert.
    Zum Beispiel, dass Lissi nicht mehr bei Freese arbeitete, sondern als Zimmermädchen im Dornbusch . Es machte ihr nichts aus, schon im Morgengrauen an den Wiesen entlang nach Kloster zu laufen und oft erst spät am Abend zurück nach Vitte. Sie gefiel sich mit Schürze und Häubchen und freute sich, wenn die Herrschaften, für die sie die Betten machte und Waschgeschirre leerte, ihr ab und zu ein paar Pfennige zusteckten. Die Gäste wussten zu schätzen, dass sie ihre Arbeit gern tat, und im Überschwang der Sommerlaune konnte es vorkommen, dass man sie aufforderte, ein Glas von der gekühlten Limonade mitzutrinken, die sie zur gewünschten Zeit an den Strand trug. Oder man drückte ihr eine Boccia-Kugel in die Hand, damit sie sich mit ein paar Würfen versuchte. Was nicht hieß, dass die Grenzen sich auflösten. Sie verschwammen nur manchmal, und Lissi war unbeschwert genug, dabei mitzutun. Trotzdem blieb sie auf der Hut. Sie wusste, dass neben jedem ausgelassenen Gast einer lauern konnte, der an ihrer Unbefangenheit Anstoß nehmen und sich beschweren würde, und dafür wollte sie keinen Anlass geben.
    Daran hat sie entweder nicht gedacht oder vielleicht nur zu lange gezögert, als Richard Schlesinger ihr begegnete.
    »Erlauben Sie, dass ich Sie ein Stück begleite?«, fragte er formvollendet mit der Andeutung einer Verbeugung.
    »Warum nicht?«, antwortete sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte sagen sollen, ohne unhöflich zu sein. Und ein bisschen wohl auch, weil er an der Wegbiegung auf sie zutrat, wo sie den Baracken am nächsten war. Von dort drang das Grölen der Männer herüber, die auch nachts ihre Stimmen nicht dämpften, mit denen sie tags über den Lärm der Baustelle hinwegbrüllten. Sie war jedes Mal froh, wenn sie dieses Stück ihres Heimwegs hinter sich gebracht hatte, ohne von jemand bemerkt worden zu sein.
    Sie kannte Richard Schlesinger. Sein schüchternes Lächeln, seine linkischen Bewegungen, für die seine lauten, zackigen Brüder nur Spott übrig hatten. Also, warum nicht?
    Ein rechtes Thema, über das sie auf ihrem Weg hätten reden können, fanden sie nicht. Das Wetter: warm und hochsommerlich. Der Strand: noch voller als im Jahr zuvor. Der Himmel: hoch und weit und sternenübersät wie jedes Jahr im August.
    »Ja, dann«, sagte Lissi, als sie ein gutes Stück vorm Norderende stehen blieb und ihm die Hand gab. »Schönen Dank auch für Ihre Gesellschaft.« Erleichtert stellte sie fest, dass er verstand, was sie eigentlich meinte: Bis hierher mochte es angegangen sein, dass er sie begleitete, aber sobald die ersten Vitter Häuser auftauchten, musste Schluss damit sein. Zu schnell geriet ein Mädchen in Verruf. Erst recht eins von hier, das sich mit einem Sommergast einließ.
    Dabei blieb es. Auch beim nächsten und übernächsten Mal hielten sie sich daran und näherten sich dem Dorf nicht weiter als an diesem ersten Abend. Wann immer es möglich war, wartete er an der Wegbiegung. Dann gingen sie nebeneinander her. Nur manchmal berührten sich wie zufällig ihre Arme.
    Er fragte nach ihrer Familie. Sie tastete sich mit Geschichten von den Geschwistern vor. Von den Zwillingen, die aber so verschieden waren wie Schwestern nur sein konnten. Dunkelhaarig und

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