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Totenseelen

Totenseelen

Titel: Totenseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lautenbach
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voranschlingerte, der Himmel über den Dünen heller schimmerte, und überall Abenteuer, bei denen Mädchen bloß störten. Erst recht, wenn es die eigenen Schwestern waren.
    Der Alte knüpfte sein Erinnerungsnetz unbeirrt weiter. »Wie Kletten hängen sie einem am Kragen mit ihrem Gefrage und Gekicher und Geheule. Wie ein Klotz am Bein. Und wehe, es passiert was, weil man seine Sache nicht ordentlich macht. Eh man sich’s versieht, hat die Mutter in den Sack mit Kopfnüssen gegriffen und in die Backpfeifenkiste hinterher.« Otto Brand besah seine Hände. Dunkel und knotig von der endlos schweren Arbeit an Bord, hatten sie später wohl aus den gleichen oder ganz ähnlichen Gründen zugeschlagen.
     
    Aber jetzt saß er schweigend da und dachte an den dreizehnjährigen Jungen, der zähneknirschend seine Schwester mitschleppt. Obwohl es nun wirklich nichts für Mädchen ist, sich abends heimlich auf die Elchpirsch davonzustehlen. Das finden die anderen auch und sind nur einverstanden, weil Gerti damit droht, reihum bei allen Eltern petzen zu gehen. Ihr richtiger Name ist eigentlich Gertrud, aber das wissen die wenigsten. Nicht mal auf ihrem Grabstein steht er, weil für ein elfjähriges Kind Gerti schöner ist. Das findet sogar der Pastor und duldet die Abweichung vom Kirchbuch. Ein Trost ist das nicht. Nichts ist ein Trost, wenn man ein Kind waschen und aufbahren muss. Bei ihm wachen, bis es fortgebracht wird. In der Kirchenbank vor einem Sarg beten, über dem ein Engel schwebt, als warte er darauf, es zu begleiten.
    An allem trägt er die Schuld.
    An nichts anderes hat er gedacht, als mit eigenen Augen zu sehen, dass eins der mächtigen Tiere wie aus der Unterwelt aufsteigt, sich aus dem Wasser an Land schiebt und so nah vorüberzieht, dass er glaubt, es berühren zu können. Die breite Brust, den höckrigen Widerrist, den langen Kopf mit den gezackten Schaufeln und der weit vorgestülpten Schnauze, den es plötzlich zu Boden senkt und dunkel drohende Laute ausstößt.
    Auch wenn sie nie jemand gewarnt hat, wie gefährlich Elche sein können, spüren sie, dass diese Schaufeln sie durch die Luft schleudern, diese Hufe sie zermalmen werden, wenn sie nicht fliehen. Also rennen sie um ihr Leben und halten erst an, als Häuser in Sicht sind.
    »Da haben wir gemerkt, dass Gerti fehlte.« Otto Brand seufzte tief und versank in bedrücktem Schweigen. Nach einer Weile fragte Pieplow: »Und dann?« So leise, dass der Alte ihn eigentlich nicht hören konnte. Aber er wandte Pieplow doch das Gesicht zu. »Und dann«, wiederholte er, »dann haben wir sie gesucht. Allein, die ganze Nacht, bis morgens die Männer kamen, um nach den Reusen zu sehen. Die haben dann alle im Dorf zusammengetrommelt und systematisch gesucht, aber genützt hat es nichts. Wenn dort, wo sie ins Wasser gelaufen ist, keine Netze gestanden hätten, wäre sie wohl nie gefunden worden. Aber das wussten wir erst später.« Mehr wollte er dazu nicht sagen. Wer hier lebte, musste wissen, was es bedeutet, wenn ein Körper drei Tage und drei Nächte im Bodden trieb.
     
    Manchmal träumte er von ihr. In letzter Zeit öfter. Als würde löchrig und brüchig, womit er all die Jahre die Erinnerung ferngehalten hatte, so dass sie jetzt in seinen Schlaf sickern und ihn quälen konnte. Mit Bildern von Gerti in ihrem dunklen Kleid, an dem der halbe Rock fehlte, als man sie fand. Mit ihren Schreien, die es damals nicht gab. Niemand hatte geschrien, das wusste er genau. Viel zu groß war die Angst, das riesige Tier noch mehr zu reizen.
     
    Der Alte schüttelte unwirsch den Kopf, als könnte er so die Erinnerung vertreiben. Seine Stimme klang barsch, als er sich wieder Pieplow zuwandte: »So war das. Auch wenn ich nicht weiß, warum ihr euch dafür interessiert. Das ist lange her und hat für niemanden mehr eine Bedeutung. Außer für mich. Für mich ist es immer noch eine Last, aber ich hoffe doch, dass sie mir demnächst abgenommen wird.« Mit einem schiefen, verschmitzten Lächeln kniff er ein Auge zu und piekte mit seinem hakenkrummen Zeigefinger in die Seeluft Richtung Himmel.

    Kästner ächzte und fluchte wie gewohnt, bis beide Beine, das gesunde schneller als das geschiente, im Fußraum und die Krücken auf der Rückbank verstaut waren. Ihm die Laune zu verderben war nie schwer, aber an diesem Morgen war es Pieplow offenbar besonders gründlich gelungen. Kästner schnaubte nur empört, als Andrea ihm aufzählen wollte, welche Annehmlichkeiten er genossen hatte:

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