Totenseelen
zustande bringen und selbst gut dabei wegkommen, so viel war klar. Und dass seine Frau ihm bei den Ermittlungen umfangreiche Amtshilfe geleistet hatte, ging niemanden etwas an. Am allerwenigsten Böhm.
Gern hätte Pieplow noch erfahren, wie es mit dem Schlesinger-Grundstück weitergehen würde, auf dem gerade die letzten Utensilien der Spurensicherung zum Abtransport bereitgestellt wurden. Die Grube, aus der man Dietrich Roloffs Überreste geborgen hatte, war wieder zugeschüttet, aber ansonsten sah es übel aus. Nicht so, als würde in diesem Herbst noch jemand hier wohnen können. Doch in diesem Moment klingelte Böhms Handy, und was ihm mitgeteilt wurde, war offenbar enorm wichtig, denn er scheuchte Kästner und Pieplow mit herrischem Wedeln davon.
»Zwölf Uhr dreißig … ja … gewiss … überhaupt kein Problem … Auf Wiederhören, Frau Sander-Einberg.«
»Wem leckt er jetzt die Stiefel?«, höhnte Kästner, sobald sie außer Hörweite waren.
Es dauerte eine Weile, bis Pieplow vor Augen hatte, welches Bild zu dem Namen gehörte, vor dem Böhm buckelte. »Pumps«, stellte er richtig. »Die Pumps der Staatsanwältin.« Mit einer tiefen Chauffeursverbeugung hielt er Kästner die Beifahrertür auf.
»Was nun?«, fragte Kästner unternehmungslustig.
»Nun fahre ich dich ins Büro. Du schreibst deinen Bericht, und ich mache da weiter, wo ich aufgehört habe.«
»Und das wäre?«
»Na, was wohl? Den suchen, der vor siebzig Jahren wegen zweitausend Mark einen Mord begangen haben soll. Du hast doch gehört, wohin die Stoßrichtung geht.«
»Das ist nicht dein Ernst, oder?«, fragte Kästner verblüfft.
»Gibt’s eine Alternative? Solange das Verfahren nicht eingestellt ist, wird uns wohl kaum etwas anderes übrig bleiben.«
Den Mund noch halb offen, dachte Kästner angestrengt nach. »Wahrscheinlich nicht«, gab er zu. »Bisschen pro forma herumfragen kann ja auch nicht schaden.«
»Eben.« Pieplow nickte. Und außerdem steckte da noch dieses Foto in seiner Uniformtasche. Das Mädchen vom Dornbusch . Aus Vitte, genau wie die Verlobte von Roloff.
Was hatte Waltraud Pape gesagt? Tragische Geschichte. Kurz vor der Hochzeit gestorben.
»Ich fang mit Fine an«, teilte er Kästner mit, der nicht ahnen konnte, welche Fragen Pieplow durch den Kopf schwirrten.
»Die beste Idee des Tages«, lobte Kästner, der dabei unverkennbar ganz eigene Hintergedanken hatte. »Und grüß Marie.« Kästner versuchte sich an einem verschwörerischen Blick unter Männern. Was dabei herauskam, erinnerte eher an ein Kleinganovengesicht. Scheckbetrug oder Heiratsschwindel, tippte Pieplow.
12
Es kam nie ein Brief. Nicht eine einzige Zeile. Nicht aus Hamburg, von wo sogar Friedrichs Brüder Karten bekamen. Sie zeigten sie im Dorf herum wie Trophäen. »Hamburg – Tor zur Welt« stand schräg über Ozeanriesen, die sich mit dampfenden Schornsteinen und hoch aufragendem Bug aus dem Hafen schoben. Elbabwärts, Richtung Welt.
Auch nicht aus Southampton, als Friedrich den ersten schweren Sturm hinter sich hatte, mit Brechern, die tonnenschwer an Deck stürzten und mit sich fortrissen, was nicht niet- und nagelfest war. Tagelang trug seine Mutter den Brief in ihrer Schürzentasche. Wann immer die Rede auf ihren Sohn kam, zog sie ihn heraus und las die dramatischsten Sätze vor.
Aus jedem Hafen schrieb er. Nur nicht an Clara.
Wenn sie wenigstens geschimpft hätte! Sich beklagt, dass Friedrich sein Versprechen nicht hielt und dass sie schwarzsah, was das Gold und die Seide betraf.
Aber sie schwieg. Stolz und gekränkt. Und nach einer Weile mit einem verächtlichen Zug um den Mund, wenn sie sich abwandte, sobald das Gespräch auf Friedrich und seine große Reise kam.
Möglich, dass sonst niemand merkte, wie ihr zumute war. Dass sie sich verraten fühlte. Verloren, als seien ihr die Leinen gekappt, als treibe sie richtungslos auf dem Meer. Als gebe es kein Zurück.
Ich weiß, dass es so war. Weil ihr Lächeln verschwand und mit ihm das warme Glimmen in ihren Augen. Weil sie sich bewegte wie ein menschlicher Automat. Einer, der läuft und die Hände hebt und den Kopf dreht, wenn es sein soll. Der nur funktioniert und dabei die Zeit vergehen lässt.
»Zur Vernunft kommen« nannte Marga Timpe die Trostlosigkeit ihrer Tochter. »Es scheint, sie kommt allmählich zur Vernunft.« Laut und Zustimmung fordernd drang ihre Stimme aus der Küche zu mir herüber. Sobald ich die Nähmaschine drosselte, konnte ich sie hören. »Jetzt sieht sie
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