Totenseelen
ein, dass man sein Herz nicht an einen Seemann hängt, wenn man klug ist. Was sie ja immer sein wollte, meine Clara. Klüger als ihre Mutter sogar. Aber glaub mir, es sind immer die Mütter, die wissen, was das Beste für ihr Kind ist. Immer.«
Meine Mutter antwortete nicht. Oder so leise und zaghaft, dass ich nichts mitbekam. Dafür umso mehr von dem, was Marga Timpe über das Seemannsleben zum Besten gab. Die Braut in jedem Hafen – wenn’s denn bei einer bleibt! Der Suff, das Laster, die Krankheit. Das wisse man doch, auch wenn nur hinter vorgehaltener Hand darüber geredet werde. Ihr reiche es hin, was den Männern in Stralsund diesbezüglich geboten werde, und dass es schon schwer genug sei, das Geld auf Heller und Pfennig zusammenzuhalten, wenn man bloß eine Fischersfrau war.
Von meiner Mutter hörte ich nichts. Keine Zustimmung und kein Widerwort. Überhaupt kam es mir vor, während ich dasaß und lauschte, obwohl ich eigentlich mit der Weißwäsche fürs Ostseehotel vorankommen sollte, als wäre meine Mutter stiller als sonst. Ich weiß noch, wie sehr ich mir wünschte, dass sie es aus Mitleid mit Clara sei. Wenn sie schon nicht den Schneid hatte, Marga Timpe zu widersprechen, sollte sie wenigstens Traurigkeit spüren, wenn von Clara die Rede war. Schließlich war gerade sie es, die wissen musste, dass Clara vergeblich wartete. So viele von Friedrichs Karten und Briefen waren im Postamt durch die Hände meiner Mutter gegangen, dass sie sie schon an seiner großen, gestochen scharfen Schrift erkannte. Sie wusste, wie regelmäßig er schrieb, vor allem seit sein Schiff vor Vera Cruz havariert und wochenlang ungewiss war, wann und wie und wohin es weitergehen würde.
Natürlich machte die Geschichte von Friedrichs Schiffbruch im Dorf die Runde und wurde je nach Temperament in verschiedenen Versionen erzählt.
Wollte man den Kindern glauben, war sein Schiff von Seeräubern gekapert worden.
Die Frauen beschäftigten sich mit den Gefahren, denen Friedrich so glücklich entkommen war, nur um in diesem Vera Cruz wie ein Fisch an Land geworfen zu sein.
Die Männer debattierten die Manöver, mit denen sich bei schwerem Nordost und hoher See das Unglück nicht hatte abwenden lassen.
Clara schien das alles nicht zu interessieren. Als gingen sie weder Seeräuber noch Vera Cruz oder Sturm aus Nordost etwas an, schwieg sie und zeigte das abweisende Gesicht, an das wir uns allmählich gewöhnten.
Vielleicht war es gerade dieser unnahbare Ernst, der Dietrich Roloff gefiel, als er Clara irgendwann zu Saisonbeginn an Jeschkes Ladentisch gegenüberstand. Von da an kam er regelmäßig, verlangte etwas, das er genauso gut in Kloster bekommen hätte, zahlte und ging wieder.
Immer öfter betrat er kurz vor Ladenschluss das Geschäft, kaufte einen Film, eine Zeitung oder Postkarten und bot Clara, wenn sie die Ladentür schloss, seine Begleitung an. Die Gleichgültigkeit, mit der sie sein Angebot annahm oder ablehnte, störte ihn nicht. Wurde er abgewiesen, zog er den Hut, deutete eine Verbeugung an und machte sich allein auf den Weg. Durfte er sie bis zur Pforte des Timpeschen Hauses am Norderende begleiten, blieb stets ein gehöriger Abstand zwischen ihnen, der Claras Ehrbarkeit nicht in Gefahr brachte.
Zum Leidwesen Marga Timpes. Denn ein wenig entgegenkommender, fand sie, könnte Clara schon sein. Verbindlicher, als nur neben ihm herzulaufen, mit hängenden Armen, den Blick irgendwo an den Horizont geheftet, vollkommen achtlos gegenüber dieser wunderbaren Gelegenheit.
Wie gut, dass wenigstens ihre Mutter wusste, was zu tun war!
Pünktlich zum Feierabend ihrer Tochter bezog sie am Fenster Position, damit sie rechtzeitig mit strahlendem Lächeln vor das Haus treten und dem Herrn Ingenieur einen schönen Abend wünschen konnte.
So ein Zufall! Wie reizend, ganz meinerseits, gnädige Frau.
Gnädige Frau! Marga Timpe fühlte sich am Ziel all ihrer Wünsche.
Ich hätte nicht sagen können, warum es mir so wenig gefiel, Clara mit ihm zusammen zu sehen. Ich bin ihnen hin und wieder begegnet. Meist auf dem Rückweg von Kloster. Ein verschwitzter, rotgesichtiger Gnom auf einem viel zu großen Rad, das ich mit schlingerndem Lenker im Wegsand kaum vorwärtsbrachte. Auf dem Gepäckträger immer die große Kiste, mit der ich die Wäsche transportierte.
Es stimmte, was die Leute sagten. Sie waren ein schönes Paar.
Ich dachte das auch.
Jedes Mal, wenn ich sie sah, fiel mir auf, wie gut sie zueinander passten. Beide groß,
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