Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
dunkel. Auch Autos gab es keine, und die Garage stand offen. Aus den Reifenspuren im Schnee vor dem Haus war zu schließen, dass hier erst vor kurzem mindestens ein Wagen weggefahren war. Im Haus befand sich augenscheinlich niemand, und die Haustür war abgeschlossen. Kreuthner erbot sich, das Problem zu beheben, und erhielt von Lukas die Erlaubnis, das Türschloss mit einem Dietrich zu öffnen, was er in kurzer Zeit bewerkstelligte.
Im Inneren des Hauses war es warm und verraucht. Außerdem recht unaufgeräumt. Offensichtlich war vor nicht allzu langer Zeit noch jemand hier gewesen. Wallner nahm außerdem den Duft von Claudias Parfüm wahr. Er haftete am Sofa. Einer der Beamten fand eine Damenhandtasche. Sie gehörte Claudia, wie Lukas und Wallner schockiert feststellten. Wo war Claudia jetzt? Hatten die Entführer das Versteck gewechselt – oder Claudia umgebracht? Wallner war es genauso schwer ums Herz wie Lukas. Doch versuchten beide, die Sache professionell anzugehen.
»Wir sind auf dem Weg nach oben an einem Geländewagen vorbeigekommen«, sagte Wallner. »Ich meine, er hätte ein Münchner Kennzeichen gehabt.«
»Wo stand der?«
»Vielleicht einen Kilometer weiter unten. In der Einfahrt zu einem Forstweg.«
»Schauen wir nach«, entschied Lukas.
Nick, der den Geländewagen geparkt hatte, besaß keine Taschenlampe, und da es wieder sehr dunkel geworden war und ein Schneesturm blies, bat er Makis, ihm den Weg zu leuchten. Diesen Moment hatte Claudia genutzt, um ihr Versteck hinter dem Wagen zu verlassen und sich etwa fünfzig Meter bergab bis zum Waldrand zu bewegen. Sie kam nur langsam voran, denn der Schnee war tief und schwer und fiel in den Schaft ihrer Stiefel.
Makis und sein Gehilfe brauchten nicht lange, um festzustellen, dass Claudia nicht mehr im Wagen war, und die Fußspuren zu finden, die sie im Schnee hinterlassen hatte.
Mit schnellen Schritten stapfte Claudia durch den verschneiten Wald. Der Schnee war hier nicht so tief wie auf dem freien Hang. Aber unter dem Schnee lauerten Löcher und zugeschneite Äste und andere Hindernisse, die man nicht erkennen konnte. Ein ums andere Mal stolperte Claudia, fiel in den Schnee, stand wieder auf, setzte sich auf einen Baumstumpf, um den Schnee aus den Stiefeln zu schütteln. Das kostete Kraft. Zu viel Kraft. Und die Taschenlampe kam näher.
Sie überlegte, wie sie es vermeiden konnte, Spuren zu hinterlassen. Sie müsste an einen Fluss oder Bach kommen oder an eine größere Fläche ohne Schnee. Aber daran war in diesem Bergwald nicht zu denken. Sie stolperte weiter, blieb erneut an etwas unter der Schneedecke hängen, fiel vornüber. Der Schnee war überall, in ihrem Gesicht, am Hals, wo er schmolz und das Schmelzwasser Bluse und Büstenhalter durchnässte. Mit einem Mal wurde sie unendlich müde, sie wollte einfach nur liegen bleiben.
Da fiel ihr die Astschere ein. Die Angst verlieh ihr neue Kraft. Sie würden ihr die Finger abschneiden oder noch Schlimmeres antun. In jedem Fall würden sie sie irgendwann umbringen. Sie hatte das Gesicht ihres Bewachers gesehen. Das waren Profis, die so etwas nicht durchgehen ließen. Die Furcht machte ihre Beine stark und ließ sie rennen wie noch nie in ihrem Leben. Das Schwarz vor ihr war nur ab und zu von einem Hauch von Licht durchbrochen, gerade genug, um Bäume anzuzeigen und ihnen auszuweichen.
Doch mit einem Mal war das Dunkel anders. Dunkler. Sie blieb stehen. Irgendetwas stimmte nicht. Als die Ahnung langsam durchsickerte, gab es ihr einen Stich ins Herz. Sie formte einen Schneeball und warf ihn in das Dunkel. Aber sie hörte ihn nicht aufkommen. Wenige Meter vor ihr tat sich ein Abgrund auf.
Am Baum neben ihr schien ein Licht auf. Der Strahl der Taschenlampe hatte ihn erleuchtet. Claudias Verfolger waren da. Das Licht traf sie mitten ins Gesicht.
Die Polizisten waren den Abhang hinuntergelaufen und hatten das Autowrack entdeckt. Wallner leuchtete mit einer Taschenlampe ins Wageninnere und sah ein Paar Pumps auf der Seitenscheibe der Fahrerseite. Er zog Kreuthner zu Rate, der bestätigte, dass es die Schuhe waren, die Claudia heute getragen hatte. Jemand entdeckte die Spuren, die zum Wald führten. Lukas sah sich die Abdrücke im Schnee genauer an.
»Ist sie barfuß durch den Schnee gelaufen?«, fragte Wallner.
»Nein. Sieht nicht so aus. Ich denke, es sind insgesamt drei Spuren. Es kann noch nicht so lange her sein.« Lukas leuchtete Richtung Wald. »Wir teilen uns auf. Sechs Mann gehen den
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