Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
der Kehre in den Wald abzweigte, musste er Nissl finden. Wallners Herz schlug bis zum Hals, teils vor Anstrengung, teils aus Angst, Nissl tot oder mit zertrümmerten Knochen zu finden. Immer wieder rutschte er auf schneebedeckten Ästen aus, die auf dem Boden lagen. Wallner war jetzt genau unter der Seilbahn. Weit konnte Nissl nicht sein. Der Lichtkegel wischte über eine Ansammlung Jungfichten hinweg und kehrte wieder zu ihnen zurück. Dort war etwas. Ein schwarzes Profil. Eine Stiefelsohle. Wallner rief Nissls Namen – der Stiefel bewegte sich.
Nissl lag auf dem Rücken und war bei Bewusstsein. Sein Atem ging schwer, als Wallner neben ihm niederkniete. »Alles in Ordnung?« Wallner selbst klang die Frage seltsam in den Ohren. Nissl war gerade fünfzehn Meter in die Tiefe gestürzt. Trotzdem nickte er. Es war offensichtlich, dass gar nichts in Ordnung war, abgesehen davon, dass er noch lebte. Das rechte Bein der Jeans war auf Kniehöhe dunkelrot gefärbt, und man konnte an der eigenartigen Wölbung des Stoffes sehen, dass darunter ein offener Bruch sein musste. Seitlich unter dem Parka ragten grüne Äste hervor. Nissl war in eine Gruppe junger Fichten gefallen. Das hatte ihm das Leben gerettet.
»Was machst denn für einen Scheiß?«, sagte Wallner, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. »Kannst du atmen?«
Nissl nickte und ergriff den Ärmel von Wallners Daunenjacke. »Mir ist kalt«, sagte er, während er Wallner zu sich zog. Der nahm ein Zittern wahr, das so dezent war, dass Wallner es in der ersten Aufregung nicht bemerkt hatte.
»Bleib ruhig. Die sind gleich da. Dann holen wir einen Krankenwagen.« Wallner sah hinunter zu der Stelle, an der der Bergpfad endete und die Forststraße begann. Hier würden in wenigen Minuten einige Fahrzeuge der Polizei eintreffen. Und in einem davon wäre ein Funkgerät, hoffte Wallner, und es kam ihm der Gedanke, dass man alle Polizisten mit Mobiltelefonen ausrüsten sollte. Dann hätte er längst einen Notarzt verständigen können.
»Ich muss dir was sagen«, flüsterte Nissl.
»Beweg dich nicht so viel. Und spar dir den Atem.« Wallner zog seine Daunenjacke aus und deckte sie über Nissl. Der hörte nicht auf zu zittern, und jetzt fing auch Wallner damit an. Der Föhn hatte nachgelassen, und die Temperaturen bewegten sich langsam auf den Nullpunkt zu.
»Den Sarg aus Glas … ich … ich hab den wirklich gesehen.«
»Wenn du wieder gesund bist, dann zeigst du ihn mir. Einverstanden?«
»Bist a anständiger Kerl.« Er nahm Wallners Hand. Nissls Hand war erstaunlich weich und kalt wie der Tod. »Zieh die Jacke wieder an. Ich brauch sie nicht.«
»Du brauchst sie«, sagte Wallner und spähte den Berg hinab, ob sich nicht von irgendwo Lichter näherten oder Motorengeräusch zu hören war.
»In dem Sarg liegt eine Frau. Sie … sie hat ein Loch im Kopf. Von einer Kugel.« Nissl konnte nicht weitersprechen. Er hustete und hielt sich die Hand vor den Mund. Die Hand färbte sich schwarzrot, ebenso Nissls Mund. Wallner versuchte, ihn mit einer Geste zu beschwichtigen.
»Komm, bitte! Halt dich ruhig. Wir gehen zusammen zu deinem Sarg. Wenn das hier vorbei ist. Versprochen.«
»Ich geh nirgends mehr hin«, hauchte Nissl. »Sankt Veit. Hörst du? Der Sarg ist in Sankt Veit, im Keller.« Er starrte Wallner mit aufgerissenen Augen an und quetschte dessen Unterarm mit der blutverschmierten Hand. »Ich hab die Frau auf dem Gewissen!« Das Brummen eines Motors hallte durch den Bergwald.
»Hörst du das? Sie kommen«, sagte Wallner und legte seine freie Hand auf Nissls Brust, um ihn zu beruhigen. Unter der Daunenjacke spürte Wallner etwas Hartes. Er riss die Jacke weg und sah auf den Parka. Vorher war sie ihm nicht aufgefallen – die kleine Erhebung an der Stelle des Brustbeins. Sie sah aus wie ein Zelt mit einer Stange, nur flacher. Er öffnete vorsichtig den Parka und betrachtete, was sich darunter verbarg. Blut, viel Blut, und in der Mitte der rote Stumpf eines kleinen Baumes. Bei seinem Fall auf die jungen Fichten war eine unter Nissls Gewicht gebrochen, und ihr Stumpf hatte ihn durchbohrt. Das Stämmchen hatte das Herz knapp verfehlt, denn es schlug noch, wie Wallner an der pulsierenden Blutung erkennen konnte. In dem Moment, als er daran dachte, die Blutung mit der Hand zu stillen, versiegte sie, und einen Moment später fiel Nissls Hand von Wallners Unterarm ab. Nissl war da, wo er hinwollte. Wallner schloss ihm die Augen, als das Licht mehrerer Fahrzeuge
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