Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
weiter unten um eine Kurve der Forststraße bog.
12
W allner lauschte dem Rauschen des Föhns und dem aufgewühlten Wasser, das gegen das Seeufer schlug. Eine Weile hielt er die Augen geschlossen und ließ sich den Wind ins Gesicht wehen, die Mütze tief in die Stirn gezogen und die Hände in den Taschen der Daunenjacke. Als er die Augen wieder öffnete, funkelte ihn das Mondlicht an, das sich auf der gekräuselten Wasseroberfläche brach. Der Mond stand über dem Setzberg am Südende des Tegernsees und tauchte die Nacht in ein Märchenlicht. Die schneebedeckten Gipfel rings um den See hoben sich weißlich vor dem Nachthimmel ab, und es war, als erwarte das Gebirge nach diesem letzten Aufbäumen der Wärme die Ankunft eines langen Winters.
Wallner spürte einen Druck auf der Brust, der ihm trotz der frischen Brise kaum Luft zum Atmen ließ. Wieder und wieder stand der riesige Mann vor ihm auf und ließ sich in die Tiefe fallen. Er hätte es verhindern können. Aber er war so überrascht gewesen von Nissls Tat, dass er nicht reagiert hatte. Was schlimmer war – er hatte die Situation vollkommen falsch eingeschätzt. Obwohl Nissls Verzweiflung offensichtlich gewesen war, hatte er nicht eine Sekunde damit gerechnet, dass der Mann sich etwas antun würde. Er hatte alle möglichen Szenarien im Kopf durchgespielt. Doch die hatten alle mit dem Einstieg in das Fluchtauto begonnen. Und einen Moment lang hatte er sogar gedacht, er könnte Nissl zum Aufgeben bewegen. In diesem Augenblick hatte ihn Nissl mit verklärter Milde angesehen, die Wallner wie tiefe Einsicht vorkam. Es war die Sekunde gewesen, bevor sich Nissl das Leben nahm.
»Hör auf, dir die Schuld zu geben«, sagte Claudias verkratzte Stimme neben ihm, und sie nahm seine Hand. »Du bist an seinem Tod am allerwenigsten schuld.«
»Kann sein«, sagte Wallner. »Aber es fühlt sich nicht so an.«
Es hatte eineinhalb Stunden gedauert, bis man Nissls Leiche geborgen und untersucht hatte. Da er nicht eines natürlichen Todes gestorben war, musste sein Ableben kriminalpolizeilich untersucht werden. Außerdem waren die Geiselnahme und die dem Wirt des Hirschberghauses zugefügte Körperverletzung aufzunehmen und gegebenenfalls zu klären, ob noch jemand anderer sich in dem Zusammenhang strafbar gemacht hatte.
Wallner hatte Lukas eine Zusammenfassung der Ereignisse gegeben und war anschließend orientierungslos zwischen den Autos herumgelaufen, bis Claudia vom Hirschberghaus heruntergekommen war und sich seiner angenommen hatte. Wallner war dankbar gewesen, dass sie ihn wegbrachte. Auf dem Weg nach Miesbach hatten sie in Kaltenbrunn am Nordende des Tegernsees angehalten und waren zum Strandbad hinuntergegangen, das im November verlassen vor sich hin dämmerte.
Seit einer halben Stunde saßen sie auf dem Steg des Freibads und blickten auf den See.
»Komm her«, sagte Claudia und zog Wallner an sich. Ganz nah bei ihr, an ihrem Hals, konnte Wallner wieder ihr Parfüm riechen, das mittlerweile eine dezentere, wärmere Note hatte.
»Ich sollte mal ins Bett«, sagte Wallner schließlich.
Am nächsten Morgen wachte er um halb sechs auf. Es war noch dunkel. Draußen hatte der Wind nachgelassen. Es schneite. Wallner lag im Bett und konnte die vielen Gedanken nicht verscheuchen, die in seinem Kopf umherschossen. Immer noch war da dieser Druck auf Brust und Magen, wieder und wieder tauchten Bilder von Nissls Gesicht und von sprudelndem Blut vor Wallners innerem Auge auf.
Schließlich verließ er das Bett und duschte. Als er in die Küche kam, fühlte er sich etwas besser. Zu seiner Überraschung traf er dort auf seine Großeltern. Er hatte vergessen, dass sie um sechs frühstückten. Seit mindestens vierzig Jahren.
Wallner, der während der Polizeiausbildung in München gewohnt hatte, war vor drei Monaten, als er die Stelle in Miesbach angetreten hatte, wieder in das Haus seiner Großeltern eingezogen – das Haus seiner Kindheit. 1977 war Wallners Vater nach Venezuela gegangen und nicht zurückgekehrt. Ob ihm etwas zugestoßen war oder ob er nur nichts mehr mit seiner Vergangenheit zu tun haben wollte, wusste niemand. Jedenfalls hörte man nie wieder von ihm. Wallner war zu dieser Zeit acht Jahre alt. Da seine Mutter schon 1971 bei einem Badeunfall im Tegernsee gestorben war, hatten sich die Großeltern seiner angenommen. Sie waren seine eigentlichen Eltern. Sein Großvater Manfred war erst einundsechzig, klein gewachsen und immer noch drahtig. Die Arbeit in der
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