Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
Stimmung ist gerade ein bisschen explosiv, wie ich das sehe. Aber es gibt auch positive Aspekte. Ich meine, wenn das eure schlimmsten Sorgen sind! Andere wären froh, wenn sie die hätten.«
Karin klappte wütend das letzte Butterbrot zusammen. »Wennst amal vierzig Jahre verheiratet bist, wirst anders drüber denken. Ich pack’s.« Karin legte ihre Schürze ab und begab sich hinaus in den Flur, um sich fertig zu machen. Denn sie ging heute, wie an zwei weiteren Tagen die Woche, zu einem Herrn Lendtrock, bei dem sie sich als Haushälterin verdingte.
Nachdem Karin gegangen war, packte Manfred die Butterbrote wie jeden Tag in seine braune Lederaktentasche, die nie etwas anderes enthalten hatte als Brote, Wurst und ein Taschenmesser mit Hirschhorngriff, das Manfred zum Schneiden der Wurst diente.
»Wieso streitet ihr euch wegen so einem Käse?«, fragte Wallner und nahm einen Schluck Kaffee, der ihm jetzt noch dünner vorkam als zuvor.
»Was fragst mich? Sie fängt mit so was an. Macht aus jeder Mücke an Elefanten. Na und? Dann is es halt a Löffel Kaffee weniger.«
»Du bist doch genauso.«
»Ich? Ja woher denn? Ich hab mich nie beklagt.«
»Natürlich. Die Zeitung zum Beispiel, dass sie die nicht ordentlich zusammenlegt, wenn sie sie gelesen hat.«
»Aber das ist doch wahr. Die Zeitung schaut aus wie Kraut und Rüben, wenn s’ deine Oma in der Reiß’n gehabt hat. Das macht man einfach net.«
»Mich stört’s auch. Ich leg sie dann halt selber zusammen. Das dauert genau fünf Sekunden. Aber du, du machst jedes Mal ein Mordsgezeter drum.«
»Mei«, Manfred machte die Schnallen seiner Aktentasche zu. »Wennst gar nix mehr sagen darfst.«
»Darum geht’s nicht.«
»Sondern?«
»Ob ihr euch den Rest eures Lebens gegenseitig quälen wollt. Das können noch dreißig lange Jahre werden.«
Manfreds Gesicht bekam mit einem Mal einen nachdenklichen Ausdruck. »Weißt, wir sind jetzt über vierzig Jahre zusammen. Da schaffen wir den Rest auch noch. Wir haben so viel zusammen durchgestanden, da lässt einer den anderen nimmer im Stich.« Er legte seine große, rauhe Arbeiterhand auf Wallners Schulter, was er selten tat. »Wir haben einen Sohn großgezogen, und der ist verschollen. Und dann haben wir unseren Enkel großgezogen. Das war bestimmt das Schönste in unserem Leben. Und das haben wir gemeinsam gemacht.«
»Ihr habt das gut gemacht. Verdammt gut.« Wallner drückte kurz die Hand seines Großvaters. »Aber jetzt bin ich nicht mehr da, und du gehst bald in Rente. Überlegt euch, was ihr mit euerm Leben anstellt.«
Manfred nickte und nahm seine Aktentasche. »Wie war’s eigentlich gestern Abend? Bist spät nach Hause gekommen.«
»Der Nissl Thomas ist gestorben«, sagte Wallner. »Ein … Unfall.«
»Oh – tut mir leid.«
»Du hast ihn gekannt?«
»Wir sind der gleiche Jahrgang. Haben Fußball zusammen gespielt. Ganz a merkwürdiger Mensch.«
»Ja, irgendwie seltsam.«
»Seit die den damals eingesperrt haben. Da ist er kaputtgegangen dran.« Manfred schien ein wenig in sich versunken.
»Wer hat den Nissl eingesperrt?«
»Keine Ahnung. Polizei, SS, SA. Irgendwer. Das war ganz kurz vorm Kriegsende. Und dann haben sie ihn vergessen.«
»Wie – vergessen?«
»Die haben ihn im Keller vom Sakerer Gütl eingesperrt. Das war a aufgelassenes Bauernhaus, ganz abseits gelegen. Des gibt’s auch schon lang nimmer. In den Siebzigern ham s’ es abgerissen. Also, wie gesagt, die haben den Nissl da eingesperrt, und dann ist der Amerikaner gekommen. Und in dem Durcheinander haben s’ den Nissl einfach vergessen. Seine Eltern haben gedacht, die Amerikaner hätten ihn erschossen. Weil sie ihn kurz zuvor noch zum Volkssturm eingezogen haben. Achtzehn Tage ist er da in dem Keller gesessen, bis ihn endlich einer gefunden hat.«
»Wo war das?«
»In Dürnbach.«
Die Erwähnung des Ortes Dürnbach machte Wallner nachdenklich. »Sag mal – in Dürnbach, gibt’s da eine Veits-Kirche?«
»Wüsst net, dass es in Dürnbach überhaupts a Kirch’n gibt.«
»Ah so? Weil der Nissl hat die Kirche kurz vor seinem Tod erwähnt.«
Manfred zuckte mit den Schultern und machte sich auf den Weg.
13
2. Mai 1945
D er Wind wehte frisch über dem verschneiten Land an diesem Morgen. Es würde kein schöner Tag werden, der Himmel war wolkenverhangen und die Temperaturen deutlich zu kalt für die Jahreszeit. Immerhin war es so warm, dass der Schnee von den Dächern schmolz. Ein paar Stunden noch, und es würde vorbei
Weitere Kostenlose Bücher