Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
sein.
Ja, dachte auch Hauptscharführer Kieling, noch ein paar Stunden, und die Gestalten, die zum Appell vor ihm standen, würden frei sein, weinen vor Glück, sich den Magen vollschlagen, bis ihnen schlecht war. Und dann, wenn sie wieder zu Kräften gekommen waren, würden sie Rache nehmen an denen, die sie über Jahre erniedrigt hatten. Das jedenfalls würde er an ihrer Stelle machen.
Einen Moment überlegte er, sie alle erschießen zu lassen. Achtzig Zeugen weniger. Andererseits – achtzig tote Frauen, die man ihm anlasten könnte. Und wenn die künftigen Sieger erst da waren, würde sich schon jemand finden, der sich auf Kielings Kosten beliebt machen wollte. Auch hatte er bei Frauen gewisse Hemmungen. Nicht sehr große. Aber doch so, dass es ihm nicht so leicht von der Hand ging wie bei Männern. Kieling führte das auf die Reste bürgerlicher Erziehung zurück, die noch in ihm steckten.
Bis gestern hatte Kieling vorgehabt, mit den Frauen bis zum Ötztal zu marschieren, obwohl auch er keine Ahnung hatte, wozu das gut sein sollte. Die historische Aufgabe der SS hatte sich, wenn man ehrlich war, erledigt, seine Vorgesetzten hatten aufgegeben und warteten bei Waakirchen mit dreitausend Häftlingen auf die Amerikaner. Wobei die meisten wohl eher nicht warteten. Einige SS-Kameraden hatte er vorhin auf einem Lastwagen der Wehrmacht gesehen, der Richtung Osten fuhr. Es waren sicher nicht die Einzigen, die ihren Posten verlassen hatten. Das hatte ihn nachdenklich gemacht. Es war klar gewesen in den letzten Monaten, dass niemand bei der SS das Ende dieses Krieges erleben wollte. Sie würden sich bis zum letzten Blutstropfen dem Feind entgegenwerfen und durch ihren heroischen Tod in die Geschichtsbücher eingehen. Alles andere war unwürdig für einen SS-Mann. Es gab dann aber erstaunlich viele Kameraden, denen Würde und Geschichtsbücher einerlei waren und die sich ein Leben nach dem Krieg offenbar durchaus vorstellen konnten. Kieling schwankte noch.
Eine Frauenstimme rief »neunundsiebzig« und riss Kieling aus seinen Gedanken. Sämtliche SS-Leute blickten zu Kieling. Die Häftlinge waren starr vor Angst. Es war klar, was das zu bedeuten hatte. Eine Frau fehlte.
»Noch mal!«, befahl Kieling. Die Prozedur begann von vorn. Kieling war der Einzige auf dem Marsch von Dachau, der noch Appelle abhielt. Den anderen war’s egal, ob es ein paar Häftlinge mehr oder weniger gab. Ausfälle gab es jeden Tag. Immer wieder starben welche an Entkräftung, oder es gelang ihnen die Flucht. In Achmühle hatte ein Jesuit in Wehrmachtsuniform dreißig Priester aus dem Etappenlager geschmuggelt. Das war natürlich irgendwann aufgefallen. Aber es interessierte keinen mehr. Eher schon, dass die Jesuiten Schnaps und Zigaretten an die Wachleute verteilt hatten. Mit dieser Einstellung war der Krieg natürlich nicht mehr zu gewinnen.
Auch beim zweiten Durchzählen kam man nur bis neunundsiebzig. »Wer fehlt?« Kieling ließ seinen Blick über die gesenkten Häupter der Frauen schweifen. Ihm war klar, wer fehlte – Frieda. Aufgefallen war sie ihm schon vor ein paar Tagen. Das hohlwangige Gesicht und der kahlgeschorene Schädel hatten kaum Ähnlichkeit mit der Frieda, die er vor sechs Jahren gekannt hatte. Mit dem blumig-frischen achtzehnjährigen Mädchen, das alle verrückt gemacht hatte im Dorf. Die Augen waren es gewesen und die Art, den Kopf ein kleines bisschen zur Seite zu drehen, wenn sie unwillig war. Bei den meisten Häftlingen verflüchtigten sich derlei hochmütige Gesten im Lager schnell. Die gekrümmten Körper verrieten nur noch Angst und das Bewusstsein, dass jeder Augenblick der letzte sein konnte. Frieda hatte sich dieses kleine Stück Würde und Hochmut behalten.
Er winkte Lohmeier zu sich. »Ich glaube, ich weiß, wo sie hin ist.«
»Nach Westen? Waakirchen?« Das wäre naheliegend, denn die Amerikaner konnten nicht mehr weit sein.
»Nein. Nach Dürnbach.« Kieling deutete mit seiner Reitgerte auf die Wiese, auf der gerade der Schnee taute. Die Fußspuren der Flüchtigen waren deutlich zu erkennen.
»War sie es?«, fragte Lohmeier.
»Ich bin mir sicher.« Kieling wandte sich an das restliche Wachpersonal. »Ich werde die Flüchtige verfolgen. Oberscharführer Lohmeier wird mich begleiten. Ansonsten das übliche Verfahren. Kein Häftling rührt sich von der Stelle, bis die Flüchtige wieder da ist.«
Die SS-Leute schwiegen, und manch einer hing seinen eigenen Gedanken nach. Und die galten nicht seiner Aufgabe,
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