Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
sondern den amerikanischen Truppen, die in den nächsten Stunden hier vorbeikommen würden.
»Im Falle der Feindberührung … wünsche ich euch viel Glück. Tut, was ihr für richtig haltet. Wir sehen uns irgendwann wieder.«
Damit war ziemlich klar: Sobald Kieling fort war, würden die verbliebenen Wachleute fliehen. Die Freiheit war zum Greifen nah. Alle Frauen beschäftigte nur ein Gedanke: Die nächsten Minuten durfte nichts mehr schiefgehen. Einigen stiegen vor Glück die Tränen in die Augen, aber sie hielten sie zurück. Noch war es nicht vorbei.
Greta hatte die Augen geschlossen und sandte ein stummes Dankgebet zum Himmel. Dann fiel ihr auf, dass es still wurde. Diese besondere Stille, wenn von achtzig Frauen keine Einzige es wagt, sich zu bewegen. Als sie ihre Augen vorsichtig öffnete, stand Kieling neben ihr. Er sah sie und ihre Tochter Sarah lange an. Dann sagte er: »Mitkommen!«
Hinter der Scheune sah man nach Westen, wo irgendwann im Verlauf des Tages feindliche Panzer auftauchen würden. Kieling war wütend. Wütend darüber, dass sie die Ankunft seiner Feinde herbeisehnten. Wütend darüber, dass die Zeit zu Ende ging, in der allein seine Gegenwart Schrecken verbreitete. Was würde geschehen, wenn alles vorbei war? Würden sie ihn erschießen? Wieder zum Knecht machen? Musste er wieder vor Haltmayer den Hut ziehen und sich von ihm behandeln lassen, wie der seinen Hund nicht behandelte? Wenige Stunden nur war er noch Herr über Leben und Tod. Und wer immer ihm begegnete, hatte das verdammt noch mal zu respektieren.
»Du hattest die Augen geschlossen«, sagte er leise zu Greta, die halb vor ihrer Tochter stand und mit dunklen Pupillen ins Nichts starrte. »Und du hast die Lippen bewegt. Hast du gebetet?«
»Vielleicht.«
»Vielleicht? Du wirst doch wissen, ob du gebetet hast.«
»Ja, ich habe gebetet.«
»Ich hatte gerade eine Ansprache gehalten. Ist das der richtige Zeitpunkt, um zu beten?«
»Nein. Ich bitte um Entschuldigung.«
Kieling legte die Spitze seiner Reitgerte an Gretas Schulter und drückte sanft, so dass sich die Gerte bog. »Tritt ein wenig zur Seite. Ich sehe deine Tochter gar nicht.«
Greta blieb, wo sie war. »Bitte lassen Sie sie gehen. Sie hat nichts getan.«
»Niemand von euch hat etwas getan. Hat uns das jemals daran gehindert, euch umzubringen?«
Greta begann zu frösteln. Ein kalter Lufthauch zerrte an ihrer Häftlingsjacke.
»Möchtest du mir nicht antworten?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ein bisschen mehr Mut. Wer betet, während der Hauptscharführer redet, ist sicher auch sonst nicht auf den Mund gefallen. Also?«
Greta atmete kurz und heftig, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Vielleicht gab es ein Wunder und eine amerikanische Granate würde ihren Weg hierher finden. »Nein«, sagte sie.
»Ich weiß knappe Antworten zu schätzen. Aber was heißt nein jetzt genau?«
»Nein. Ihr tötet uns, auch wenn wir nichts getan haben.«
»Das klingt, als wären wir die ungerechtesten Hurensöhne, die je einen Fuß auf diesen Planeten gesetzt haben.«
»Das klingt nicht nur so.« Greta erschrak über ihre eigenen Worte und bereute sie noch im gleichen Augenblick.
Kieling zog die Augenbrauen hoch. »Chapeau!« Er legte die Reitgerte weg und zog seine Pistole aus dem Halfter. »Du wolltest einen Schritt zur Seite gehen.«
»Bitte! Tun Sie das nicht!«
»Du sagst mir, was ich tun soll? So weit sind wir noch nicht.« Kieling entsicherte die Waffe. »Was hast du vorhin eigentlich gebetet?«
»Ich … ich hab Gott gedankt, dass er uns …«, sie wusste nicht recht weiter.
»Dass er euch gerettet hat? War das nicht etwas vorschnell?«
»Dass er bis jetzt … seine Hand über uns gehalten hat.«
»Ich war zugegebenermaßen nie besonders gläubig. Und wenn, dann katholisch und nicht jüdisch. Was wohl weniger Unterschied macht, als die Juden oder die Katholiken glauben. Aber erklär mir das: Ihr wart doch jahrelang im KZ. Und wir wissen, wie es da zugeht. So sieht das aus, wenn Gott die Hand über euch hält?«
Greta sagte nichts, was Kieling offenbar auch gar nicht erwartete. »Was macht Gott, wenn er wütend auf euch ist?«
Greta schwieg weiter.
Kieling betrachtete seine Pistole. Greta wollte etwas sagen, brach aber im letzten Moment ab. »Du möchtest nicht, dass deiner Tochter im letzten Moment noch etwas passiert? Ist das so?«
Greta nickte.
»Das heißt, du glaubst, dass es bald vorbei ist und unsere Feinde euch retten?«
»Nein, das habe ich nicht
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