Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
frech werden. Ist das klar?«
Die Stille lag wie Blei über dem Raum.
»Und jetzt herhören: Heute Morgen ist ein weiblicher Häftling entflohen. Frieda Jonas ist ihr Name. Sie ist wahrscheinlich in Dürnbach. Hat jemand sie gesehen?« Wieder blickte er in die Runde gesenkter Köpfe.
Es kam Unruhe in die Menge. Elisabeth Muhrtaler sah zum Kaplan, der sie versteinert anstarrte, dann ein kurzer Blick zu Kieling, was ihm signalisierte, dass sie unsicher war, wie sie sich verhalten sollte.
Kieling konnte sie herausholen. Vielleicht würde sie ihm etwas sagen, wahrscheinlich sogar. Aber er wollte nicht, dass die anderen so einfach davonkamen. Der Krieg würde in ein paar Stunden in Dürnbach vorbei sein. Und alle, die hier saßen, hatten ihn prächtig überlebt. Er wollte ihnen eine gemeinsame Erinnerung hinterlassen.
»Ich lass euch jetzt fünf Minuten alleine«, sagte Kieling, wippte mit seiner Reitgerte und schlug die Tür hinter sich zu.
Als er weg war, kontrollierten sie noch einmal, ob die Fenster verschlossen waren. Und auch danach redeten sie nur im Flüsterton.
»Tut’s euch nicht versündigen«, mahnte der Kaplan.
»Die knallen uns ab«, sagte einer.
»Genickschuss. Da machen die kurzen Prozess«, sagte ein anderer.
»Wegen der hergelaufenen Schlampe lass ich mich net umbringen«, eine Dritte.
»Habt’s ihr denn gar kein Herz?«, sagte die Frau vom Apotheker.
Der Bürgermeister sagte lange nichts und hörte mit ernstem Gesicht zu. »Wir müssen gemeinsam a Entscheidung treffen«, verkündete er schließlich.
Draußen rauchte Kieling eine Zigarette. Es war seine letzte Packung.
»Die dürften reichen, bis uns der Ami am Arsch kriegt«, sagte Oberscharführer Kurt Lohmeier.
Kieling sagte nichts. Er sah die Straße hinab, die Richtung Miesbach führte. In der Ferne bewegte sich etwas.
»Was machen wir, wenn wir sie haben?«, wollte Lohmeier wissen.
»Das kannst du mir überlassen. Danach geht’s nach Süden. Ich hab gehört, einige Kameraden wollen sich am Wallberg verschanzen.«
»Hört sich gut an«, sagte Lohmeier ohne echte Überzeugung.
Sie schwiegen und rauchten eine Weile. Inzwischen konnte man erkennen, was sich da aus Miesbach auf sie zubewegte. Es war eine Gruppe von Menschen, ein paar alte Männer und einige Jugendliche. Sie trugen Gewehre bei sich, bunt zusammengewürfelt aus Wehrmachts- und Beutebeständen. Und sie hatten Armbinden mit der Aufschrift DEUTSCHER VOLKSSTURM WEHRMACHT.
»Ach du Scheiße«, sagte Lohmeier. »Die wollen sich doch nicht von den Amis abknallen lassen?«
»Sieht so aus.« Kieling warf seine Kippe auf den Boden. »Vielleicht gar nicht so schlecht, dass die vorbeikommen. Die können sich auch nützlich machen.« Lohmeier sah seinen Vorgesetzten fragend an. »Halt sie auf«, sagte Kieling und ging wieder ins Wirtshaus.
Sie hatten die Köpfe immer noch unten, als Kieling den Raum betrat. Nur der Bürgermeister sah ihm in die Augen. Er hatte Angst. Seine Stimme schwankte. Er schluckte und sah zum Kaplan, der den Eindruck machte, als laste alles Elend dieser Welt – und das war nicht wenig in diesen Tagen – auf seinen Schultern.
»Also?«, fragte Kieling und lehnte sich gegen den Türstock.
»Wir haben mal herumgefragt, ob wer was weiß von der Frau«, begann der Bürgermeister zögernd. Der SS-Mann blickte ihm starr in die Augen. »Und es ist so, dass jemand gesehen hat, dass sie auf der Straße in Richtung Festenbach gegangen ist. Zum Haltmayerhof.«
»Die ist nicht so dumm, sich da zu verstecken.« Kieling ging auf den Bürgermeister zu, blieb einen Meter vor ihm stehen und tippte ihm mit der Reitgerte auf die Schulter. »Wo – ist – sie?!«
Der Bürgermeister begann zu zittern und sah zu Elisabeth Muhrtaler. Die räusperte sich und sprach dann mit fester Stimme: »Die ist vor zwei Stund wirklich auf den Haltmayerhof. Ich bin ihr mit dem Radl nachgefahren. A halbe Stund später ist sie mit dem alten Haltmayer aus dem Hof raus und hinters Haus gegangen. Dann weiß ich nimmer, wo die hin sind. Aber sie hat a Kleid angehabt und a Strickjack’n und a Wollmütz’n. Ich glaub, der Haltmayer hat sie irgendwo am Hof oder in der Nähe versteckt.«
Kieling nickte anerkennend. »Na also, es geht doch.«
19
Herbst 1992
N ach den beim LKA vorgenommenen Untersuchungen war das Holz des Sarges um das Jahr 1940 geschlagen worden, während die falschen Edelsteine aus den fünfziger Jahren stammten. Bei dem Skelett handelte es sich um die Leiche einer
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