Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
der die Kapelle gehört?«
»Unwahrscheinlich. Den hätte man in der Krypta bestattet.«
»Vielleicht jemand, der bei der Familie in Ungnade gefallen war.«
Auch Wallner beugte sich nun über die Kiste, und gemeinsam betrachteten sie das Skelett in seinem Sarg. Der Körper war mit einer Art Totenhemd verhüllt, das ursprünglich wohl weiß gewesen war, im Lauf der Jahre jedoch eine fleckig-bräunliche Farbe angenommen hatte. Um den Hals hing ein Medaillon.
»Frau oder Mann?«
»Frau«, sagte Wallner.
»Aha?«
»Erstens die Größe – eher klein, würde ich sagen. Kann natürlich auch ein Kind oder ein Jugendlicher gewesen sein. Zweitens die Schädelform, der steile Stirnknochen. Drittens das Medaillon. Ich denke, so was tragen hauptsächlich Frauen. Und viertens …« Wallner zögerte.
»Viertens?«, hakte Lukas nach.
»Nissl sagte, es wäre eine Frau.«
»Woher wusste der das?«
»Keine Ahnung. Er wusste offenbar mehr über diese Leiche als wir. Und mehr, als er mir verraten hat. Er sagte übrigens auch, er sei für ihren Tod verantwortlich.«
»Er hat sie umgebracht?«
»Seine Worte waren: Ich hab sie auf dem Gewissen. Sie können sich aussuchen, was er damit gemeint hat. Und ob das bei ihm überhaupt was zu bedeuten hat.«
Aus dem Hintergrund meldete sich einer der Spurensicherer. »Wir haben was gefunden.« Sein Kollege hielt den Sargdeckel, der auf der Seitenkante stand. Der Beamte leuchtete mit einer Taschenlampe auf die Innenseite des Deckels, an der eine korrodierte Messingplatte angebracht war. Auf der Platte war eine Gravur. In schlichter Antiqua-Schrift stand dort:
Frieda Jonas
24.3.1921 – 2.5.1945
Kreuthner, als gebürtiger Dürnbacher, wurde gefragt, ob ihm der Name Jonas etwas sagte. Aber Kreuthner wusste von niemandem, der so hieß.
»Das klären wir schon noch. Die Frage ist eher: Haben wir es mit einem Gewaltdelikt zu tun?« Lukas winkte einen der Spurensicherungsbeamten heran. »Schaut das nach äußerer Gewalteinwirkung aus?« Lukas deutete auf das Skelett.
»Nicht, soweit man sehen kann.« Der Schädel schien unversehrt. Keine Trümmerbrüche am Hinterkopf, keine Frakturen an den Knochen, die nicht vom Totenhemd bedeckt waren. »Aber das heißt ja nichts.«
»Das ist zwar richtig«, sagte Lukas. »Nur – wir müssen jetzt entscheiden, ob wir wen aus München kommen lassen. Bis wir herausgefunden haben, wer die Leiche ist und ob sie ordnungsgemäß gestorben ist – das kann Wochen dauern.«
Wallner betrachtete nachdenklich das Skelett in seinem ungewöhnlichen Sarg. Schließlich bückte er sich und hob unter Zuhilfenahme eines Papiertaschentuchs eine Spiegelscherbe auf, die auf dem Boden lag. Anscheinend hatte es früher einen weiteren Spiegel gegeben, der zu Bruch gegangen war.
»Was wird das?«, wollte Lukas wissen.
Wallner rückte eine der Lampen näher an den Sarg, so dass er vollständig ausgeleuchtet wurde. Dann beugte er sich über die Kiste und hielt die Spiegelscherbe vor die Stirn des Totenschädels, die nur wenige Zentimeter von der Kistenwand entfernt war. Dadurch konnte man erkennen, wie es auf der linken, im Schatten gelegenen Schädelseite aussah. Mit erstaunlichen Ergebnissen: In der Spiegelscherbe wurde ein Loch sichtbar, kreisrund und etwa zwei Zentimeter im Durchmesser.
»Was sagt der interessierte Laie?«, wandte sich Lukas an den Spurensicherer.
»Tja – bin kein Arzt. Aber schaut aus wie a Einschuss.«
»Herr Wallner – wir brauchen einen Gerichtsmediziner.«
17
D ie Tasse klingelte aggressiv, als Erich Lukas seinen Kaffee umrührte. Er leckte den Löffel ab und warf ihn auf den Schreibtisch, wo er auf einem Stapel Unterschriftsmappen neben dem vollen Aschenbecher zu liegen kam.
Der Leiter der Kripo Miesbach war groß, hager, die grauen Haare wirr, die Augen tief in den Höhlen. Der fleischige Mund ließ keine Zweifel aufkommen, dass er mit Claudia verwandt war. Er blickte auf die beiden Männer vor sich und sagte: »Bevor wir zu unserem Leichenfund kommen, erst mal was anderes: Was ist da gestern passiert?«
Wallner versenkte zwei Stückchen Zucker in seiner Tasse, so dass der Tee beinahe über den Rand schwappte. Er überlegte, ob er umrühren sollte, ließ es dann und sah zu Kreuthner.
»Im Prinzip war des a unglückliche Verkettung von Umständen«, begann Kreuthner seine Rechtfertigung.
Lukas klopfte sich eine filterlose Zigarette auf einem Aktendeckel zurecht und steckte sie zwischen die Lippen. »Ich bin gespannt.« Das
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