Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
Frau im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, was mit den Lebensdaten auf der Plakette übereinstimmte. Sie war durch einen Schuss in den Kopf getötet worden. Die Kugel befand sich noch im Schädel und hatte das Kaliber 7,92 × 57. Munition dieser Art war Standard bei der Wehrmacht, wurde aber auch später noch als Jagdmunition verwendet. Dass das Projektil nicht wieder ausgetreten war, führten die Techniker darauf zurück, dass es wahrscheinlich durch eine Wollmütze gebremst worden war, die das Opfer zum Zeitpunkt des Todes trug. Am Einschussloch ließen sich Faserreste nachweisen.
In den amtlichen Sterberegistern in Gmund, in das Dürnbach Anfang der siebziger Jahre eingemeindet worden war, fand sich kein Eintrag für eine Frau mit dem Namen Frieda Jonas. Auch eine Familie dieses Namens war dort nicht ansässig. Im Landkreis Miesbach und in den angrenzenden Landkreisen waren mehrere Personen unter dem Namen Jonas gemeldet, die meisten davon jedoch erst nach dem Krieg zugezogen; die Übrigen konnten sich an keine Verwandte namens Frieda erinnern.
Es war kalt an diesem Novemberabend. Zwei Grad über null, Nieselregen, nasses Laub auf dem Parkplatz vor dem Gasthaus. Es lag an der Bundesstraße, die vom Tegernsee nach München führte. Wallner sog die kalte Luft ein, die nach modrigen Blättern roch. Es standen nicht viele Autos auf dem Parkplatz.
Wallners Brille beschlug, als er die verrauchte Wirtsstube betrat. Der Geruch von Schweinsbraten und Fritteusenfett hing in der Luft.
Nachdem er seine Brille geputzt hatte, erkannte Wallner hinter dem Tresen eine junge Frau in Jeans und T-Shirt: schwarze Haare mit einer blauen Strähne, blaue Augen, weiße Haut und Sommersprossen. Letzteres ließ Wallner vermuten, dass sie bei der Haarfarbe nachgeholfen hatte. Die junge Frau füllte ein Weißbier aus einer Flasche in ein Glas, was eine gewisse Handfertigkeit erforderte. Als das Glas voll war, schwenkte sie die Flasche, schüttete die Hefe ins Glas, ließ die Flasche unter dem Tresen verschwinden und nahm einen Zug aus einer Zigarette, die in einem großen braunen Wirtshausaschenbecher vor sich hin rauchte.
»Servus, wie geht’s?«, sagte Wallner, als er sich an den Tresen setzte.
»Gut.«
»Freut mich. Nicht viel los heute?«
»Bist zum Quatschen da oder magst auch was trinken?« Die junge Frau stellte das Weißbierglas auf ein rundes Tablett, auf dem sich bereits drei Obstler befanden, und verschwand in Richtung Stammtisch.
»Ein Helles wär recht«, rief ihr Wallner nach.
Zurück hinterm Tresen zapfte die junge Frau mehrere helle Bier. Wallner stellte sich vor.
»Clemens? Seltener Name. Ich hab noch nie an Clemens getroffen.«
»Ja, wir Clemense gehen nicht oft unter Leute. Wie heißt du?«
»Ich bin die Nicole. Mit e hinten.«
»Ah ja, mit e.« Nicole stellte ein Bier vor Wallner. »Also, Nicole, ich suche jemanden.«
»Wen?«
»Das weiß ich noch nicht genau. Vielleicht kannst du mir helfen. Früher muss hier in Dürnbach mal eine Frau mit dem Namen Frieda Jonas gelebt haben.«
»Die suchst du?«
»Nein. Die ist seit über vierzig Jahren tot. Ich will wissen, wer sie war. Gibt es hier Leute, die mir weiterhelfen können? Jemand, der schon lange hier lebt.«
»Meine Großmutter«, sagte Nicole und deutete auf eine Frau, die allein an einem Tisch saß, rauchte und Bier trank. Die Frau mochte um die siebzig sein. Dass sie einst gut ausgesehen hatte, war noch zu erkennen. Gleichzeitig machte sie einen etwas verwirrten Eindruck, sah kurz zu Wallner und wich seinem Blick aus, als er sie ebenfalls ansah. »Aber ich glaube, das bringt nichts. Ihr Gedächtnis funktioniert nicht mehr.«
»Manchmal können sich alte Leute trotzdem an Dinge aus ihrer Jugend erinnern.«
Nicole ging zur Großmutter und tippte ihr auf die Schulter. Die alte Dame sah ihre Enkelin nur flüchtig an. »Oma, kennst du eine Frau von früher? Die heißt …« Nicole drehte sich zu Wallner. »Wie war der Name?«
»Frieda Jonas.«
»Frieda Jonas. Kennst du die?«
Die alte Frau schüttelte heftig den Kopf und wandte sich von Nicole ab.
»Versuch’s mal beim Ruperti.« Nicole deutete auf einen Tisch in der Ecke, den ein schmiedeeisernes Schild als Stammtisch auswies. »Da, der ganz Alte. War in der Steinzeit mal Bürgermeister in Dürnbach.« Gemeint war ein hagerer, faltiger Mann in den Achtzigern. Mit am Tisch saßen zwei weitere Männer, etwas jünger und rüstiger.
»Grüß Gott, mein Name ist Wallner. Sie sind der Herr
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