Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
halten. In Anbetracht seiner Geldgier war es erstaunlich, dass er es die längste Zeit seines Lebens zu nichts gebracht hatte. Erst im Jahr 1967 wurde ihm das Glück zuteil, von seinem Onkel Ägidius einen großen Bauernhof in Dürnbach zu erben. Ägidius war kinderlos geblieben und Sebastian sein nächster Verwandter. Den Beruf des Bauern hatte Sebastian Haltmayer durchaus erlernt, denn er hatte lange Jahre für geringen Lohn bei seinem Onkel gearbeitet, der ihn freilich nicht besser als den niedersten Knecht behandelte. Achtundvierzig Jahre musste Sebastian Haltmayer werden, um endlich das Leben eines freien, finanziell unabhängigen Mannes führen zu können.
Jetzt saß er im Vernehmungsraum, zusammen mit Lukas, Wallner und Höhn. Er hatte für den besonderen Anlass einen zwanzig Jahre alten Anzug mit breiter Krawatte und Schlaghose angezogen. Lukas und Höhn hatten bereits glimmende Zigaretten im Mund. Man bot Haltmayer eine an.
»Ich und rauchen? Schau ich aus, wie wenn ich mein Geld zum Fenster rausschmeiß?«
»Wäre ja in dem Fall umsonst«, gab Lukas zu bedenken. Das ließ Haltmayer kurz innehalten, bevor er endgültig ablehnte.
»Wir hätten von Ihnen gern ein paar Auskünfte zu Ereignissen, die einige Zeit zurückliegen und möglicherweise mit Ihrem verstorbenen Onkel Ägidius zusammenhängen.« Lukas schob das Foto, das man in den Beckschen Unterlagen gefunden hatte, zu Haltmayer über den Tisch. »Das sind Sie?«
Haltmayer betrachtete das Foto mit Interesse und einem gewissen Erstaunen. »Wann is des gemacht worden?«
»Zweiter Mai fünfundvierzig. Wie alt waren Sie da?«
»Sechsundzwanzig.«
»Sie waren Mitglied der SA?«
»War nix Besonderes zu der Zeit. Is des strafbar?«
»Ich trage nur die Fakten zusammen. Also noch mal: Sie waren in der SA?«
»Das sieht man doch.« Haltmayer deutete auf das Foto.
»Hat es das Verhältnis zu Ihrem Onkel Ägidius beeinträchtigt?«, fragte Wallner. »Der hatte ja Probleme mit den Nazis, wie man hört.«
»Nein. Der hat mich vorher und nachher net leiden können.«
»Immerhin hat er Ihnen den Hof vererbt.«
»Kann man so net sagen. Er hat einfach kein Testament gemacht.«
»Was war das für ein Dienstgrad?«, übernahm Lukas wieder das Gespräch.
»Rottenführer. Das entspricht dem Obergefreiten beim Heer.«
»Und in dieser Funktion haben Sie diesen Haufen des Volkssturms befehligt?«
»Die ham mir die Leute gerade erst zugewiesen gehabt. Das war praktisch unmöglich, mit denen einen Kampfeinsatz zu machen. Die ham ja keine Ausbildung gehabt. Nur so a bissl wie man ein Gewehr abschießt. Da waren Waffen aus dem neunzehnten Jahrhundert dabei. Und die meisten haben gar keine Munition gehabt. Ich hab dann irgendwann gesagt: Leut, geht’s nach Haus. Der Krieg ist vorbei.«
»Zumal die Amerikaner ja kurz vor Dürnbach standen.«
»Zweiter Mai? Kann sein.«
»Die amerikanischen Truppen sind am zweiten Mai ins Tegernseer Tal gekommen. Sonst haben Sie nichts gemacht mit Ihren Volkssturmleuten?«
»Wie gesagt, mit dene hast ja nichts anfangen können. Des wär Selbstmord gewesen, wenn mir versucht hätten, dass mir den Amerikaner aufhalten.«
»Dann will ich Ihrem Gedächtnis nachhelfen: Sie sollten entlaufene Häftlinge aufspüren.«
Haltmayer machte ein erstauntes Gesicht und schien nachzudenken. Wallner vermutete, dass er seine Optionen abwog. Von den jüngeren Mitgliedern des Volkssturmtrupps dürften die meisten noch leben. Es war also möglich, dass einer von ihnen der Polizei etwas erzählt hatte.
»Sie – das war keine Frage«, sagte Lukas und lehnte sich zu Haltmayer über den Tisch. »Wir wollen wissen, was da abgelaufen ist und wie es dazu kam. Sozusagen Ihre Version der Geschichte.«
Haltmayer nickte und räusperte sich. »Da sind zwei SS-Leute gekommen und haben gesagt, dass Häftlinge geflohen sind. Und wir hätten die suchen sollen.«
»Was für Häftlinge?«
»Eigentlich nur einer. Eine Frau. Die war bei einem Transport weggelaufen.«
»War die Frau Frieda Jonas?«
»Frieda Jonas? Nein. Die war schon Jahre vorher aus Dürnbach weggegangen.«
»Interessant«, sagte Wallner. »Mir haben Sie letzt erzählt, Sie kennen keine Frieda Jonas.«
»Ich hab mich da nicht mehr an die Frau erinnern können. Das ist ja doch schon lang her, und die war auch net lang im Dorf. Aber wie Sie weg sind, hamma noch mal drüber geredet. Und dann hamma uns erinnert, dass da mal eine war, die so geheißen hat. Sommer neununddreißig muss das gewesen
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