Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
Augenwinkeln nahm er im oberen Stockwerk des Hofes eine Bewegung wahr. Hinter dem dritten Fenster von rechts. Vielleicht ein Tier, dass sich in dem leerstehenden Haus eingenistet hatte, vielleicht irgendein Streuner. Im Augenblick war es einerlei. Er hatte sich um anderes zu kümmern.
Vor ein paar Stunden hatten sie ihm diesen Haufen Greise und Kinder übergeben. Alte Männer, sechzehnjährige Schüler aus dem ganzen Landkreis, die der Wehrmacht und der SS beistehen sollten, um das Tegernseer Tal zu verteidigen. Das Tal hatte hohen symbolischen Wert für das Dritte Reich. Bad Wiessee war eine wichtige Stätte der Bewegung, seit Hitler dort persönlich in letzter Minute den Röhm-Putsch verhindert hatte. Außerdem wohnte Himmler in Gmund. Natürlich nicht jetzt. Jetzt stand er dem Führer in Berlin in seiner schwersten Stunde zur Seite. Angeblich. Es gab nämlich Gerüchte, dass Hitler bereits den Heldentod gestorben war. Hoffentlich, dachte Haltmayer. Lang genug hat’s gedauert. Und jetzt sollte er – wo sich der Führer bereits verpisst hatte – den Kopf hinhalten und in seiner SA-Uniform gegen die Amerikaner kämpfen. Seine Mitgliedschaft in der SA hatte ihm bislang zwar den Frontdienst erspart. Wenn sie ihn gefangen nahmen, hätte er allerdings lieber die Wehrmachtsuniform angehabt.
Haltmayer war mit seinem Haufen erst einmal zum Sakerer Gütl, einem aufgelassenen, einsam gelegenen Bauernhof, marschiert, um dort Schießübungen abzuhalten. Er hatte die Hoffnung, dass in der Zwischenzeit die Amerikaner eintrafen und die Geschichte sich erledigen würde. Die GIs brauchten allerdings länger als gehofft. Und irgendwann musste er sich in Gmund blicken lassen. Man erwartete ihn.
Sebastian Haltmayer beschloss, die Schießübung zu beenden und weiterzumarschieren. Er gab dem langen Jungen das Gewehr und ließ ein letztes Mal eine Flasche aufstellen. Der junge Kerl war so nervös, dass sich der Schuss schon löste, bevor er überhaupt anlegen konnte. Die Kugel hätte fast einen vierundsechzigjährigen Lehrer ins Bein getroffen.
»Name?«, fauchte Haltmayer den Jungen an.
»Nissl, Thomas«, sagte der Angesprochene leise.
»Der Mann ist untragbar für die Truppe«, wandte sich Haltmayer an die anderen. »Du verschwendest Munition und gefährdest deine Kameraden. Des is Subversion und Sabotage. Eigentlich müsste ich dich erschießen lassen. Aber ich bin kein Unmensch.« Diese Worte würden ihm nach dem Krieg vielleicht nützlich sein, hoffte Haltmayer. »Wie gesagt, ich bin kein Unmensch«, wiederholte er, damit sich jeder der Anwesenden seine Worte merken und gegebenenfalls vor irgendeinem amerikanischen Offizier wiederholen konnte. »Sperrts ihn in den Keller.«
Im Keller des Sakerer Gütls befand sich ein Raum mit schwerer, intakter Holztür, daran ein eiserner Riegel. Die Kellerfenster waren vergittert. Als sie ihn in sein Gefängnis steckten, waren einige durchaus neidisch auf Nissl. Dem würden jedenfalls nicht die Granaten um die Ohren fliegen. Und wenn einer von ihnen in letzter Minute ins Gras biss – Nissl würde es nicht sein. Man wünschte sich gegenseitig viel Glück und kündigte an, Nissl nach dem Krieg rauszuholen. Also heute Nachmittag, wie einer nur halb im Scherz bemerkte.
Die Gewehre waren ordentlich geschultert, und der Trupp marschierte im Gleichschritt. Es erfüllte Sebastian Haltmayer dann doch ein wenig mit Stolz, dass er diese Waschlappen wenigstens so weit gedrillt hatte. Er wollte zunächst über Dürnbach Richtung Gmund marschieren, bis sie auf reguläre Einheiten trafen. Dort würde man sie vielleicht bei Schanzarbeiten einsetzen. Oder sie würden den Haufen gleich nach Hause schicken, damit sie nicht im Weg herumstünden.
In Dürnbach am Gasthof Semmelwein standen mit einem Mal zwei SS-Leute vor Haltmayer und seiner Meute.
»Das gibt’s ja net! Der Albert!«, sagte Haltmayer und ging auf Kieling zu.
Kieling sah Haltmayer ungerührt an. »Für dich immer noch Hauptscharführer«, sagte er leise. »Noch sind wir am Drücker.«
»Zu Befehl – Hauptscharführer!« Sebastian Haltmayer knallte die Hacken zusammen und riss den rechten Arm hoch.
»Was willst du denn mit dem Haufen?«
»Wir suchen den nächstgelegenen Wehrmachtsverband, schließen uns dem an und werden uns dem Feind entgegenstellen. Noch ist nichts entschieden.«
»Tatsächlich?« Kieling nickte und zog die Augenbrauen hoch. »Ihr macht jetzt erst mal was anderes. Ein weiblicher Häftling ist entlaufen und
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