Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
meiner Geburt.«
Es folgten weitere Bilder aus den zwanziger Jahren, die dokumentierten, wie Frieda Jonas zu einem hübschen Mädchen heranwuchs. Die meisten Fotografien zeigten sie allein oder mit ihrer Mutter. Manchmal waren auch Männer auf den Fotos. Der Mann vom ersten Foto tauchte jedoch nicht mehr auf.
1934: Frieda war dreizehn und hatte einen Säugling auf dem Arm – Dietmar. Daneben die Mutter, die in der Zeit kaum gealtert und eher schöner geworden war. Aus dem Mädchen Frieda wurde schließlich eine hübsche junge Frau mit einer selbstbewussten, kindlich-frechen Ausstrahlung. Selbst die vergilbten Fotos ließen erahnen, dass es ihr an Verehrern nicht gefehlt haben dürfte.
»Das ist das letzte«, sagte Jonas und blätterte noch einmal um. »Ich denke, sie hat es meiner Mutter nach Frankreich geschickt.« Das Foto zeigte mehrere Menschen vor einem Bauernhof in Oberbayern. Darunter Frieda Jonas im Dirndl, neben ihr ein blonder Hüne in Lederhosen und weißem Trachtenhemd, auf der anderen Seite ein stattlicher Mann von vielleicht fünfzig Jahren mit Trachtenjanker und einer Zigarre im Mund.
»Der Mann mit der Zigarre ist vermutlich der Bauer. Ägidius Haltmayer«, sagte Wallner. »Können wir noch mal das allererste Foto sehen? Zum Vergleich?«
Jonas nahm das Foto heraus und hielt es neben das letzte. »Der Mann sieht überhaupt nicht aus wie Haltmayer«, befand Claudia. »Gut, da liegen achtzehn Jahre dazwischen. Aber das ist er nicht.«
»Hast recht. Und der Vorzeigearier daneben hat 1921 wahrscheinlich noch in die Lederhosen gemacht.« Wallner nahm das erste Foto in die Hand und betrachtete es. »Schade. War so eine Hoffnung, dass Haltmayer Friedas Vater war.«
»Nein. Das glaube ich nicht. Meine Mutter lebte Anfang der zwanziger Jahre ja noch in Düsseldorf. Kurze Zeit wohl auch in Heidelberg. Ich vermute, sie hat Haltmayer erst in der Münchner Zeit kennengelernt.«
Wallner bat Jonas, ihm die Fotos zu leihen, um sich in einem Fotogeschäft Kopien machen zu lassen. Die Negative hatte Jonas nicht. Aber ein professioneller Fotograf konnte die Bilder abfotografieren und auf die Weise neue Abzüge herstellen.
Zum Abschluss ihres Aufenthalts in der Schweiz besuchten Claudia und Wallner das Café Hanselmann. Claudia bestand darauf, zu bezahlen. Wallner war’s recht. Denn die Preise der außergewöhnlich schmackhaften Kuchen und Torten bewegten sich in einer Region, dass manch ein in Fremdwährung bezahlender Tourist annahm, die Bedienung habe sich böse beim Umrechnen vertan.
»Wie kriegen wir das alles zusammen?«, fragte Claudia und war wieder ganz die geschäftsmäßige Staatsanwältin.
»Hypothese: Beck ruft Jonas an, weil er meint, Jonas habe Erbansprüche auf den Hof von Sebastian Haltmayer. Jonas reagiert nicht gerade begeistert. Also überlegt Beck, das Spiel andersherum zu spielen. Er sagt zu Haltmayer: Wenn du nicht zahlst, ist dein Hof weg. Sebastian Haltmayer reagiert wütend, geht zu Beck. Der lässt ihn nicht rein. Haltmayer überlegt, was er tun kann. Seine Existenz und die seiner Familie stehen auf dem Spiel. Also geht er am nächsten Tag noch einmal zu Beck und sagt, er hätte es sich anders überlegt. Beck lässt Haltmayer ins Haus, es kommt zum Streit, zu Handgreiflichkeiten. Beck stürzt und stirbt.«
»Aber warum fehlt der Ordner aus dem Jahr 1945? Das kann kein Zufall sein. Den hat Becks Mörder mitgenommen, um irgendetwas zu vertuschen, das mit dem Mord an Frieda Jonas zu tun hat.«
»Vielleicht hat Beck den Ordner irgendwo in Sicherheit gebracht, weil er ahnte, dass jemand ihn sucht. Das muss nicht notwendig etwas mit Haltmayer zu tun haben. Andererseits – vielleicht hat er Haltmayer auch nicht mit dem Hof erpresst, sondern weil … na ja, vielleicht hat Sebastian Haltmayer Frieda Jonas umgebracht, und das ergibt sich irgendwie aus den Unterlagen in dem Ordner.«
»Welches Motiv hätte Haltmayer für den Mord gehabt?«
»Um an den Hof seines Onkels zu kommen. Vielleicht gab es ein Testament zugunsten von Frieda, das Haltmayer nach dem Tod seines Onkels Ägidius hat verschwinden lassen.«
»Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, ist der alte Haltmayer Ende der sechziger Jahre gestorben. Dass jemand einen potenziellen Erben ermordet und dann über zwanzig Jahre wartet, bis der Erblasser stirbt, wäre schon ungewöhnlich.«
Wallner spießte das letzte Stück seiner Engadiner Nusstorte auf die Kuchengabel. »Aber denkbar.«
32
W allner schaffte die Fahrt zurück
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