Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
versteckt sich hier in Dürnbach. Womöglich auf dem Haltmayerhof.«
»Bei meinem Onkel? Wieso das denn?« Haltmayer konnte sich keinen Reim darauf machen.
»Frieda Jonas heißt die Frau.«
»Scheiße! Des is die Schlamp’n aus Düsseldorf! Des gibt’s ja net. Ich hab gedacht, die ist tot.«
»Wie auch immer. Wir«, Kieling deutete auf sich und Haltmayer, »gehen mit sechs von deinen Leuten zu deinem Onkel. Den Rest teilst du in Suchtrupps. Die sollen jeden Stein in Dürnbach umdrehen.«
Haltmayer knallte die Hacken, schrie »zu Befehl, Hauptscharführer!« und teilte seine Leute in Suchtrupps ein, wobei er darauf achtete, dass in jedem Trupp, soweit möglich, ein Ortskundiger war. Jeder bekam ein Gebiet in Dürnbach zugeteilt. Uhrenvergleich. Dann wurde ausgeschwärmt.
35
S ie war quer über die verschneiten Wiesen gelaufen, und es war ihr wie ein Fluch vorgekommen, dass es ausgerechnet an diesem Maimorgen eine geschlossene Schneedecke gab. Es bedeutete, dass sie Spuren für ihre Verfolger hinterließ. Die größeren Straßen waren zwar schneefrei. Aber das Risiko, in einem Häftlingsanzug mitten durch eine bewohnte Ortschaft zu laufen, war zu groß. SS und Denunzianten lauerten immer noch überall.
Ihre Beine waren kraftlos, die Füße wund, und die Holzschuhe behinderten sie zusätzlich beim Laufen. Eineinhalb Stunden brauchte sie für die Strecke zum Haltmayerhof. Kieling musste inzwischen gemerkt haben, dass sie weg war, und würde sie vermutlich suchen. Er würde zu Fuß nicht so lange brauchen. Noch schneller ging es, wenn er ein Fahrzeug requirieren konnte. Aber das war schwierig in diesen Zeiten.
Ägidius Haltmayer war sprachlos, als Frieda nach sechs Jahren wieder vor ihm stand. Er brauchte einige Zeit, um sie zu erkennen, schmutzig, abgemagert und kahl, wie sie war.
Als er sie in den Arm nahm, konnte er die Tränen nicht mehr halten. Frieda weinte nicht. Sie wusste, dass es noch nicht vorbei war.
Während sie sich wusch, suchte ihr Haltmayer ein Kleid von früher heraus, das jetzt viel zu groß war, außerdem eine kurze wollene Strickjacke. Es war empfindlich kalt draußen.
Frieda hatte ihm erzählt, dass Kieling sie suchte. Den Haltmayerhof würde er naturgemäß zuerst aufsuchen. Zwar war der Hof groß, und Verstecke gab es genug. Bis sie alles auf den Kopf gestellt hatten, war der Krieg womöglich vorbei. Andererseits – Kieling hatte Jahre auf dem Hof gelebt und kannte jeden Winkel.
»Was ist mit dem Kreuzhof? Der ist doch nicht weit weg, und da ist nie einer. Vielleicht in der Kapelle«, schlug Frieda vor.
Ägidius Haltmayer und Frieda waren aus dem Haus getreten. Etwa zweihundert Meter entfernt stand Elisabeth Muhrtaler hinter einer alten Linde und äugte zum Hof.
»Gemma hinters Haus, da können uns nicht so viele Leut sehen«, sagte Haltmayer. »Das mit der Kapelle ist keine gute Idee. Die werden die ganze Umgebung durchsuchen. Es müsst was sein, was weiter weg ist.«
Der alte Bauer schaute sich um. Alles war ruhig. Nur auf einem weit entfernten Hof wurden die Kühe auf die Weide getrieben, was Haltmayer wegen des Schnees auf den Wiesen wunderte. »Das Sakerer Gütl«, sagte er schließlich. »Das steht seit vier Jahren leer. Aber das weiß der Albert nicht. Das war nach seiner Zeit. Und es ist weit weg. Bis die da suchen, kann’s Stunden dauern.«
An diesem Morgen war auch ein rothaariger Mann namens Gerhard Beck auf den Beinen. Er bewegte sich unauffällig, hatte ein waches Auge und eine Kamera mit Teleobjektiv um den Hals. Wenn an diesem Tag, wie zu vermuten war, der Krieg in Dürnbach zu Ende ging, gab es möglicherweise interessante Ereignisse zu fotografieren. Das wollte sich Beck nicht entgehen lassen.
Vor einer Viertelstunde war er am Haltmayerhof vorbeigekommen, und sofort war ihm aufgefallen, dass die Muhrtalerin hinter einem Baum stand und zum Haus glotzte. Das musste einen Grund haben. Er ging um den Hof auf die Seite, die die Muhrtalerin nicht einsehen konnte. Er musste nicht lange warten, und der alte Haltmayer kam mit einer abgemagerten Frau, die Beck noch nie gesehen hatte, ums Haus, holte sein Motorrad mit Beiwagen aus der Remise und fuhr mit der Frau weg. Kurz bevor die beiden losfuhren, war Beck unbemerkt so nah herangekommen, dass er ein paar Fetzen ihrer Unterhaltung verstehen konnte. Bei längerem Hinsehen kam ihm die Frau durchaus bekannt vor.
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Herbst 1992
I m Fall Beck war Sebastian Haltmayer der Hauptverdächtige. Motiv, Gelegenheit, kein
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