Totenstadt
Vorteile, aber wenn er Teil einer Diktatur mit all ihren Privilegien, den Staatsschatz zu plündern, wäre, dann hätte er wirklich finanzielle Macht.
Luissant Faconde hatte Haiti nach dem Fall von Jean-Claude Duvaliers Regime im Februar 1986 mit Millionen aus dem Staatssäckel in seinen Koffern verlassen. Er konnte alles tun, was er wollte … außer sich darüber zu freuen. Dass er große Geldsummen ausgab, um eine ausgeklügelte Racheaktion zu finanzieren, beruhte auf der Tatsache, dass seine Fähigkeit, zu hassen, ebenso große Dimensionen annahm wie seine Leibesfülle.
Er nahm ziemlich viel auf sich, auch wenn er den Verlust seines Arms rächen wollte.
Mullavey lauschte auf die Geräusche hinter der Tür; das Grunzen, das Seufzen, das Quietschen … und da stand er, ein Voyeur, der selbst Gelüste verspürte.
Er ging leise zum Ende des Korridors zurück und nahm die Treppe hinunter zum Gang der Dienstboten, an dem ihre Zimmer lagen. Hinter einigen Türen war Gelächter zu hören, hinter anderen das leise Gemurmel eines Fernsehers oder Musik, aber er ging an allen vorbei und bis zur letzten Tür, an der er stehen blieb.
Mullavey öffnete sie langsam und ohne anzuklopfen. Er stand im Türrahmen und sah in den sauberen, bescheidenen kleinen Raum. Sie hatte ihn mit hellen Stofffetzen dekoriert. An der Wand über ihrem Bett hing ein Kruzifix aus Plastik, und hier und da waren Heiligenbilder an den Wänden zu sehen. Einige Kerzen brannten, manche groß und schwer, andere kaum mehr als Stumpen, und das Zimmer roch angenehm nach warmem Wachs. Und darunter nach ihr.
Clarisse LaBonté lag bereits im Bett. Sie war barfuß und trug ein langes helles Baumwollkleid. Ihr Haar fiel locker und wild herunter, wie ein Wildbach, der in der Mitte ihres Rückens endete. Sie sah von dem Magazin auf, in dem sie gerade las. Clarisse mochte Klatschzeitungen, und er sorgte dafür, dass ihr stets genug zur Verfügung standen. Er hatte selbst eine Tochter und wusste, dass Mädchen einen Traum brauchten.
Sie wirkte niemals überrascht, wenn er auftauchte. Sie sah allerdings auch nie so aus, als ob sie ihn erwartet hätte. Sie machte stets den Anschein, als würde sie ihn in diesem Moment durch und durch kennen. Sie besaß eine exotische Sinnlichkeit, die er sowohl aufregend als auch erschreckend fand. Clarisse war seine Verbindung in eine Welt, die er nie kennenlernen würde, und in eine Zeit, die er verpasst hatte.
Er setzte sich auf ihr Bett und berührte ihren Oberschenkel.
»Schläft Mrs Evelyn?«
Mullavey nickte. »Ja.« Er traf sich nur selten mit Clarisse, wenn Evelyn zu Hause war, und dann stets des Nachts. Es war ein großes Haus, und Evelyn schlief tief und fest. Er musste sich nie Sorgen machen, dass er sie beim Verlassen des Bettes wecken würde oder wenn er zurückkam.
»Und Mr Andrew ist wach. Er kommt zu Besuch.«
Mr Andrew. Das hatte ihm schon immer gefallen, diese unterwürfige Intimität. In diesen Augenblicken wurde ihm klar, dass sie keine Angst vor ihm hatte und ihn mit leicht angedeutetem Humor im Blick betrachtete. Das konnte sie seiner Meinung nach ruhig tun, solange sie nicht vergaß, wer in diesem Haus das Sagen hatte.
»Mr Andrew hatte heute einen schweren Tag«, sagte Clarisse und erhob sich, um sich dann im Schneidersitz auf dem Bett niederzulassen. Sie hielt den Rücken sehr gerade und wandte nicht einmal den Blick von ihm ab. »Das sehe ich in Ihren Augen.«
Er war für sie ein offenes Buch – und er konnte sich nicht daran erinnern, dass es jemals anders gewesen wäre. Sie war als Kind mit schlaksigen Gliedmaßen in Twin Oaks angekommen und zu einer Frau mit zarter Schönheit und schwerfälliger Anmut herangewachsen. Ihr Zimmer war nun seit vier Jahren, seit ihrem achtzehnten Geburtstag, ein Raum, in dem er körperliche Zuflucht suchte, und sie hatte ihn schon lange, bevor er seine Kleider über ihren Stuhl gehängt hatte, mit diesem Blick angesehen, unter dem er sich völlig nackt vorkam.
Er würde es zwar nie zugeben, aber sie konnte ihm genauso schnell sein Schamgefühl entlocken wie seinen Samen. Vielleicht war ihr das ohnehin schon längst klar. Möglicherweise war das auch der Grund für ihre Belustigung.
Oder die Quelle für ihren Stolz.
Und während Mullavey zärtlich ihr Kleid beiseiteschob, wusste er, dass er sie genau deswegen so sehr brauchte.
19
W O N ARREN WANDELN
Erneut New Orleans.
Trotz der üppigen, schwülen Atmosphäre mit ihren zahlreichen Düften und Aromen sowie
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